Die neue Diät heißt Spritze – und trifft sogar Grundschulkinder
Eine tägliche Spritze gegen Übergewicht – schon bei Sechsjährigen? Was wie ein Tabubruch klingt, wird medizinisch längst erprobt. Studien zeigen: Das Medikament wirkt. Doch zu welchem Preis? Psychiater Reinhard Haller warnt vor langfristigen Folgen – und stellt infrage, ob wir Kindern wirklich beibringen wollen, dass ihr Körpergewicht von einer Spritze abhängt.
Medikament statt Bewegung?
Was bereits seit einiger Zeit wissenschaftlich untersucht wird, rückt im Netz verstärkt in den Fokus der öffentlichen Debatte: Der Wirkstoff Liraglutid, besser bekannt als Saxenda, bislang vor allem bei Erwachsenen und Jugendlichen eingesetzt, zeigt laut Studien auch bei stark übergewichtigen Kindern ab sechs Jahren eine Wirkung. Der Body-Mass-Index (BMI) konnte damit messbar gesenkt werden – medizinisch ein Erfolg. Dennoch stellt sich die Frage: Sollten Kinder wirklich dauerhaft zu einer Abnehmspritze greifen müssen?
"Belastender Eingriff"
Der renommierte Psychiater Reinhard Haller sieht diese Entwicklung mit großer Sorge. "Wenn ein Kind dazu verurteilt wird, ein Leben lang auf eine Spritze angewiesen zu sein, dann ist das ein sehr belastender Eingriff", sagt er im Gespräch mit VOL.AT. Der Vergleich mit chronisch kranken Kindern, etwa mit Diabetes mellitus, liege zwar nahe – aber während dort eine lebenswichtige Versorgung im Vordergrund steht, geht es bei der Abnehmspritze auch um gesellschaftliche Erwartungen und Schönheitsideale.

Haller warnt: "Wir kennen die Langzeitfolgen noch überhaupt nicht." Besonders besorgniserregend findet er, dass das Medikament möglicherweise über viele Jahre hinweg verabreicht werden müsste – denn sobald die Behandlung endet, nimmt der BMI laut Studien häufig wieder zu.
"Frühe Abhängigkeit"
In einer 2023 veröffentlichten klinischen Studie im New England Journal of Medicine, wurde Liraglutid über ein Jahr lang bei stark adipösen Kindern getestet. Das Ergebnis: Der BMI der behandelten Kinder sank im Durchschnitt um sechs Prozent, während er in der Placebo-Gruppe leicht anstieg. Auch Blutdruck und Blutzuckerwerte verbesserten sich.
Doch die Kehrseite: Jedes zehnte Kind brach die Behandlung wegen Nebenwirkungen wie Übelkeit, Durchfall oder Erbrechen ab. Und vor allem: Der Effekt war nicht nachhaltig – ohne das Medikament kehrten die Kilos zurück.
Psychiater Reinhard Haller betont: "Wenn Kinder erleben, dass ihr Gewicht durch eine Spritze geregelt wird, entsteht eine frühe Abhängigkeit vom Medikament", warnt Haller. Die Folge: Eine echte Veränderung des Lebensstils – etwa durch gesunde Ernährung oder mehr Bewegung – tritt womöglich gar nicht erst ein.
Wer früh damit beginnt, läuft Gefahr, das Medikament dauerhaft nehmen zu müssen, um den Effekt zu halten. Das sei laut Haller "kein kleiner Eingriff, sondern ein massiver Eingriff in das kindliche Leben – mit Risiken, die wir heute noch gar nicht vollständig kennen."
Erziehung zu ungesundem Essverhalten
Haller mahnt: "Wenn wir Kindern das Gefühl geben, dass ihr Gewicht rein medikamentös zu lösen ist, dann erziehen wir sie nicht zu einem gesunden Essverhalten." Die Gefahr sei groß, dass Kinder und Eltern die Spritze als einfache Lösung betrachten – statt sich mit Ursachen wie Bewegungsmangel, falscher Ernährung oder emotionalem Essen auseinanderzusetzen.
Medizinisch könne das Medikament eine Unterstützung sein – aber nur für schwer übergewichtige Kinder mit ernsthaften gesundheitlichen Risiken. "In diesem Fall würde ich wirklich dafür plädieren, den Einsatz von der Entscheidung eines medizinischen Gremiums abhängig zu machen", so Haller.
Ursachen des Übergewichts bleiben bestehen
Auch viele Experten schlagen in die gleiche Kerbe. Die Ursachen für kindliches Übergewicht seien tiefgreifend – von der Lebensmittelindustrie über fehlenden Schulsport bis hin zu sozialen Ungleichheiten. Fast jedes dritte Kind in Europa zwischen sieben und neun Jahren ist inzwischen übergewichtig. Bewegungsmangel, billige Fertigprodukte und zu wenig gesunde Angebote prägen den Alltag vieler Familien. Ein Medikament allein kann diese strukturellen Probleme nicht lösen. Der Appetit wird zwar gedämpft – aber die Ursachen des Übergewichts bleiben bestehen.
Die Debatte um Abnehmspritzen bei Kindern ist weit mehr als eine Frage der Wirksamkeit. Sie berührt ethische Grundsätze, gesellschaftliche Erwartungen und das Selbstbild ganzer Generationen.
(VOL.AT)