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Vorarlberg und die Schweiz: Das fast vergessene Referendum wird wieder heiß diskutiert

„Sorry folks. You had your chance“ – mit diesem Satz bringt ein User auf den Punkt, worüber viele derzeit diskutieren: Warum Vorarlberg 1919 beinahe Teil der Schweiz wurde – und was den geplanten Beitritt letztlich verhinderte.

Was wäre, wenn Vorarlberg heute zur Schweiz gehören würde? Eine simple Karte auf Reddit löste genau darüber eine lebhafte Diskussion aus.

Diskussion auf Reddit: Vorarlberg als Schweizer Kanton?

Hunderte Nutzer aus der Schweiz, Österreich, Deutschland – und darüber hinaus – kommentierten ein alternatives Szenario, das auf wahren historischen Ereignissen beruht. In den Kommentaren werden Geschichte, Sprache, Tourismus und Politik verknüpft – meist mit einem Augenzwinkern:

  • „Sorry folks. You had your chance.“
    Ein User fasst knapp zusammen, dass sich die historische Gelegenheit von 1919 nie wieder ergeben werde.
  • „Greater Switzerland is on the horizon. Don’t worry, trust the plan.“
    Andere spielen ironisch mit der Idee einer geopolitisch erweiterten Schweiz.
  • „Galtür would be a crossborder ski resort in this reality.“
    Der Tourismus wird als Beispiel gebracht, wie sich ein Beitritt konkret ausgewirkt hätte.
  • „Their dialect is also quite similar to Swiss German.“
    Auch sprachliche Nähe wird diskutiert – gerade zwischen Vorarlbergerisch und Dialekten der Deutschschweiz.

Was einige überrascht: Das alles ist keineswegs reine Spekulation – sondern hat einen realen historischen Hintergrund.

1919: Die reale Abstimmung über den Schweiz-Beitritt

Am 11. Mai 1919 wurde in Vorarlberg eine Volksabstimmung abgehalten. Die Fragestellung lautete, ob die Landesregierung Beitrittsverhandlungen mit der Schweiz aufnehmen solle. Hintergrund war die instabile Lage nach dem Ersten Weltkrieg: Österreich-Ungarn war zerfallen, das politische Schicksal Deutschösterreichs während der Pariser Friedensverhandlungen unklar. Die wirtschaftliche Not in Vorarlberg war groß.

Die Abstimmung war deutlich: Rund 81 Prozent der abgegebenen Stimmen entfielen auf ein Ja, bei einer Wahlbeteiligung von rund 81 Prozent. Politisch war es jedoch lediglich ein Auftrag zur Aufnahme von Verhandlungen – ein tatsächlicher Beitritt hätte eine zweite Abstimmung erfordert.

Warum Vorarlberg zur Schweiz wollte

Die Bewegung für einen Beitritt zur Eidgenossenschaft war breit verankert. In der Bevölkerung herrschte das Gefühl, von Wien vernachlässigt zu werden. Der neu gebildete Landesrat unter Vorsitz von Otto Ender sah in der föderalen Struktur und Stabilität der Schweiz ein Vorbild. Die Vorarlberger Verfassung von 1919 übernahm mehrere Elemente aus dem Schweizer System, darunter direktdemokratische Instrumente.

Wichtige gesellschaftliche Gruppen wie Industrie und Eisenbahner, aber auch Teile des höheren Klerus, lehnten den Beitritt ab. Einige deutschnationale Kräfte sprachen sich offen für eine Alternative aus: ein Anschluss an ein neues „Schwabenland“, gemeinsam mit süddeutschen Gebieten.

„Kanton Übrig“ – ein Spottname als politisches Signal

Die ablehnende Haltung mancher Eliten brachte auch einen Ausdruck hervor, der bis heute geläufig ist: „Kanton Übrig“. Geprägt wurde der Begriff vom deutschnationalen Landtagsabgeordneten Anton Zumtobel, der in einem Flugblatt darauf hinwies, dass Vorarlberg in der Schweiz „nicht gewollt“ sei. Der Ausdruck wurde schnell zur ironischen Zuschreibung – und lebt heute sogar auf Plattformen wie Reddit weiter.

Mehr dazu: "Kanton Übrig"

©KI-Bild

Warum die Schweiz Nein sagte

Trotz des Votums kam es nie zu konkreten Beitrittsverhandlungen. Die Schweiz signalisierte zwar Gesprächsbereitschaft, blieb jedoch offiziell neutral. Mehrere Faktoren führten dazu, dass das Projekt nicht weiterverfolgt wurde:

  • Konfessionelles Gleichgewicht: Ein Beitritt Vorarlbergs hätte das Verhältnis von Katholiken und Reformierten innerhalb der Schweiz deutlich verschoben.
  • Sprachliche Balance: Das Übergewicht der deutschsprachigen Kantone wäre weiter gestiegen – zum Nachteil der französisch- und italienischsprachigen Minderheiten.
  • Außenpolitische Zurückhaltung: Die Schweiz wollte ihre diplomatischen Beziehungen zu den Siegermächten des Ersten Weltkriegs nicht gefährden.

Auch international kein Thema

Auf internationaler Ebene zeigte sich ein ähnliches Bild: Der „Rat der Vier“ (USA, Großbritannien, Frankreich, Italien) befasste sich nicht mit dem Anliegen. Der österreichische Bundeskanzler Karl Renner distanzierte sich, Frankreich und Italien sprachen sich gegen eine Schwächung von Rest-Österreich aus. Eine spätere Bitte des Vorarlberger Landtags an den Völkerbund im Jahr 1920 wurde ignoriert.

Zur Person: Karl Renner

Geboren: in Untertannowitz, Mähren

Gestorben: in Wien

Beruf: Jurist, Politiker (SDAP/SPÖ), Staatsmann

Funktionen:

  • Staatskanzler der Ersten Republik (1918–1920)
  • Präsident des Nationalrates (ab 1931)
  • Staatskanzler der provisorischen Regierung 1945
  • Erster Bundespräsident der Zweiten Republik (1945–1950)

Bedeutung: Renner war ein pragmatischer Austromarxist und zählte zu den zentralen Gestaltern der österreichischen Republik. Als führender Rechtssoziologe und politischer Vordenker prägte er die Sozialdemokratie des 20. Jahrhunderts nachhaltig.

Wie es weiterging

Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Saint-Germain am 10. September 1919 wurde Vorarlberg Teil der neuen Republik Österreich. Mit der Bundesverfassung von 1920 wurde der Status als eigenes Bundesland fixiert. Otto Ender, der die Annäherung an die Schweiz vorangetrieben hatte, wurde später österreichischer Bundeskanzler.

Wann fand die Volksabstimmung in Vorarlberg statt?

Die Abstimmung wurde am durchgeführt. Es herrschte Stimmpflicht.

Worüber wurde bei der Abstimmung entschieden?

Es ging um die Frage, ob die Vorarlberger Landesregierung mit der Schweiz Beitrittsverhandlungen aufnehmen solle. Die offizielle Frage lautete:

„Wünscht das Vorarlberger Volk, dass der Landesrat der schweizerischen Bundesregierung die Absicht des Vorarlberger Volkes, in die schweizerische Eidgenossenschaft einzutreten, bekanntgebe und mit der Bundesregierung in Verhandlungen trete?“

Wie fiel das Abstimmungsergebnis aus?

81,2 Prozent der abgegebenen Stimmen entfielen auf ein Ja, bei rund 81 Prozent Wahlbeteiligung.

Warum kam es nicht zum Beitritt?

Die Schweiz verhielt sich offiziell neutral. Ein Beitritt hätte das konfessionelle und sprachliche Gleichgewicht gestört. Außenpolitisch wollte die Schweiz keine Spannungen mit den Siegermächten riskieren.

Was geschah nach der Abstimmung?

Der Vorarlberger Landtag wandte sich zunächst an die Pariser Friedenskonferenz, später auch an den Völkerbund – ohne Erfolg. Vorarlberg wurde durch den Vertrag von Saint-Germain Teil der Republik Österreich und 1920 als Bundesland verfassungsrechtlich verankert.

Fazit

Die Geschichte des „Kantons Übrig“ zeigt, wie offen das politische Schicksal Vorarlbergs nach dem Ersten Weltkrieg war. Ein tatsächlich vollzogener Beitritt zur Schweiz hätte das Gleichgewicht der Eidgenossenschaft ebenso verändert wie das Selbstverständnis der jungen Republik Österreich. Heute lebt diese Episode in Form von Reddit-Diskussionen weiter – als spannendes historisches Gedankenexperiment mit überraschender Aktualität.

Mehr dazu: So berichten Schweizer Medien

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