Notstand in Wien

Normalerweise bemühen sich Regierungsparteien, vor einer Wahl den Eindruck zu erwecken, dass alles gut sei. Damit wollen sie sagen, dass sie einen ordentlichen Job gemacht haben und darum bitten, bestätigt zu werden. Es wäre übertrieben, zu unterstellen, dass SPÖ und Neos das im Hinblick auf die Wiener Gemeinderatswahl in zwei Wochen gar nicht tun. Schier unglaublich ist jedoch, wie sehr sie unfreiwillig Gegenteiliges zum Ausdruck bringen; dass in der Bundeshauptstadt nämlich so katastrophale Verhältnisse herrschen würden, dass ein Notstand ausgerufen werden müsse.
Ja, genau das machen sie, indem sie dem Stopp der Familienzusammenführung auf Bundesebene zustimmen. Diesen Stopp kann man nicht einfach so beschließen. Man muss ihn begründen. Und zwar damit, dass die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht mehr gewährleistet sei.
Ist das wirklich der Fall? Dass in den vergangenen Jahren zu viele Kinder ohne Deutschkenntnisse in die Schulen gekommen sind, um ihnen dort auch nur die Basics beibringen zu können, unter anderem weil es schlicht zu wenig Lehrer dafür gibt, ist unbestritten. Zum einen hat der Zulauf aber stark nachgelassen und zum anderen funktioniert Wien alles in allem noch immer besser als die meisten Millionenstädte Europas. Insofern herrscht kein Notstand.
Aber SPÖ und Neos haben sich als Koalitionspartner der ÖVP auf Bundesebene in eine missliche Lage bringen lassen: Sie wissen, dass sehr viele Menschen zumindest eine Zuwanderungsbremse wollen. Also machen sie bei dem Stopp der Familienzusammenführung für Asylberechtigte mit. Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) begrüßt ihn ausdrücklich. Neos-Landessprecher Christoph Wiederkehr, der bisherige Vizebürgermeister und nunmehrige Bildungsminister, trägt ihn als Mitglied der Bundesregierung sowieso mit.
Das mit dem behaupteten Notstand nehmen sie in Kauf. Ein Eigentor, das obendrein gefährlich ist: Sie bestätigen indirekt Freiheitliche, die in Wien so viel Unsicherheit orten, dass sie schon einmal fordern, Soldaten aufmarschieren zu lassen; und sie bestätigen die türkise Volkspartei, die von einer Messermetropole spricht.
So viel Wahlkampfhilfe für die größten Gegner hat man noch selten gesehen. Und wenn schon von Gegnern die Rede ist: Zur größten Kritik von Sozialdemokraten und Neos an FPÖ-Chef Hebert Kick zählt, dass er einen „Asyl-Notstand“ ausgerufen hat, um seine Forderung zu untermauern, gar keine Flüchtlinge mehr aufzunehmen; ja, dass es überhaupt Teil einer Politik wäre, immerzu von einem Notstand zu reden, um tun und lassen zu können, was ihm gefällt.
Das ist unter anderem auch Roten und Pinken in der Vergangenheit übel aufgestoßen. Doch jetzt begehen sie den Tabubruch und beginnen selbst mit einer Notstandspolitik. Kickl wird’s freuen: Sollte er einmal Kanzler werden und das machen, können sie nichts mehr sagen.
Johannes Huber betreibt den Blog dieSubstanz.at – Analysen und Hintergründe zur Politik