"Als wäre ich in einem Käfig gefangen" – Wenn jede Bewegung zu viel ist

Bettina Todorovic aus Hard leidet an ME/CFS – eine schwere neuroimmunologische Erkrankung, die unter anderem durch Infektionen wie COVID-19 ausgelöst werden kann.
Seit mehr als einundhalb Jahren ist ihr Alltag stark eingeschränkt, einfache Tätigkeiten, wie duschen oder Zähne putzen sind kaum noch möglich. Während ihre Familie alles gibt, um sie zu unterstützen, fehlt es neben gesellschaftlichen Vorurteilen, wie Faulheit oder Depressionen, an medizinischer Versorgung und staatlicher Anerkennung.
Video: Ein Leben im Ausnahmezustand
Was ist ME/CFS?
Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) ist eine schwere neuroimmunologische Erkrankung, die als Folge von Infektionen auftreten kann. Viele Post-Covid-Betroffene leiden unter anhaltender, lähmender Erschöpfung, kognitiven Einschränkungen, auch „Brain Fog“ genannt, und einer Verschlechterung der Symptome nach körperlicher oder geistiger Anstrengung.
Diese Erkrankung schränkt die Lebensqualität erheblich ein, oft bis hin zur Bettlägerigkeit. Obwohl die neurologische Krankheit seit 1969 von der WHO anerkannt ist, gibt es bisher keine heilende Therapie. Daher sind Betroffene auf symptomatische Behandlung und Schonung angewiesen. Die WHO schätzt, dass alleine in Europa 36 Millionen Menschen an Long-Covid erkrankt sind - und die Zahlen werden weiterhin steigen.
Wenn der Körper nicht mehr regeneriert
„Es fühlt sich an, als würde man morgens aufstehen, ohne sich jemals von der letzten Erschöpfung erholt zu haben“, beschreibt Bettina ihr tägliches Befinden. ME/CFS-Betroffene leiden unter einer massiven Energielosigkeit, die sich auch durch Schlaf nicht verbessert. Jeder Versuch, sich körperlich oder geistig zu betätigen, führt zu einer Verschlechterung der Symptome. „Ob Telefonate, kurze Spaziergänge oder selbst ein Gang auf die Toilette – alles ist zu anstrengend für mich“, erklärt die Betroffene.

"Wochenlang im dunklen Zimmer"
Im August 2023 erkrankte Bettina zum zweiten mal an COVID-19. Die Infektion verlief zunächst wie eine schwache Grippe, doch die Erschöpfung blieb bestehen. „Ich war nach der Arbeit so müde, dass ich lieber geschlafen habe, als zu essen.“ Mit der Zeit kamen immer mehr Symptome hinzu: Schlafstörungen, Konzentrationsprobleme und körperliche Schwäche. Eine Reha, die ursprünglich wegen einer anderen Vorerkrankung vorgesehen war, verschlimmerte ihren Zustand massiv.
„Nach der Reha war ich kaum noch in der Lage, den Alltag zu bewältigen“, erzählt sie. Auch die Versuche, weiterhin zu arbeiten, führten zu einem dramatischen Energie-Crash. „Ich habe die ersten Wochen nach der Reha fast nur im dunklen Zimmer verbracht und konnte kaum noch mit meiner Familie sprechen.“
"Ich kann nicht mal mehr meinen eigenen Geburtstag feiern"

Die Liste an Aktivitäten, die Bettina seither nicht mehr bewältigen kann, ist lang. „Haushalt, Kochen, Freunde treffen – alles ist zu viel“, sagt sie. Gespräche mit mehr als einer Person sind fast unmöglich, längere Besuche oder Ausflüge nicht denkbar. Selbst Fernsehen oder Lesen sind zu anstrengend, da ihr Körper auf Licht und Geräusche extrem empfindlich reagiert und ihr Gehirn mit den Texten überfordert ist.
Ansonsten ist die 48-Jährige fast vollständig auf einen Rollstuhl angewiesen. „Ich schaffe es an guten Tagen vielleicht, kurz im Garten zu sitzen“, erzählt sie. Arztbesuche sind eine der wenigen Ausnahmen – doch selbst diese fordern sie so stark, dass sie sich tagelang erholen muss.

Durch die körperliche und geistige Einschränkung ist Bettina vollkommen auf Hilfe angewiesen. „Ich brauche beispielsweise Unterstützung beim Duschen und beim Haarewaschen“, schildert die Harderin. Anfangs fiel es ihr schwer, diese Abhängigkeit zu akzeptieren, doch sie habe gelernt, ihre begrenzte Energie einzuteilen.
Auch emotional ist die Erkrankung eine große Belastung. Die soziale Isolation fällt ihr besonders schwer: „Ich komme aus einer Großfamilie, war immer unterwegs, habe Geburtstage gefeiert, Ausflüge gemacht. Heute kann ich nicht mal mehr meinen eigenen Geburtstag feiern.“

"Fühlen uns im Stich gelassen"
Aktuell gibt es keine Heilung für ME/CFS. Die wenigen Verbesserungen, die manche Betroffene erleben, geschehen durch strenge Schonung und Energiemanagement. Doch eine vollständige Genesung sei ihr bisher nicht bekannt. „Ich hoffe, dass die Forschung weiter vorankommt und es irgendwann Medikamente gibt“, so die Erkrankte.
Besonders frustrierend ist für Bettina die mangelnde Unterstützung durch den Staat. Obwohl sie seit über einem Jahr arbeitsunfähig ist, wurde ihr Antrag auf Reha- und Pflegegeld abgelehnt: "Laut Gutachten bin ich noch fünfzig Prozent arbeitsfähig und könnte mich selbst versorgen", begründet Bettina die Ablehnung.

Ehemann Nenad gibt offen zu, dass er die Krankheit anfangs unterschätzt hat. „Ich habe es zuerst belächelt – bis ich mich wirklich mit der Materie beschäftigt habe. Heute weiß ich, dass die Krankheit meiner Frau nicht mental bedingt und vor allem keine Einbildung ist“, betont er. "Dass ihre Lungenkapazität sich deutlich verschlechtert hat, sich Mikrothromben im Blut gebildet haben und sie eine Autoimmunkrankheit entwickelt hat ist alles medizinisch nachweisbar – solche Beschwerden entstehen nicht aufgrund einer schlechten psychischen Verfassung", fügt er hinzu.

Doch das Verständnis dafür fehle vielen Menschen, insbesondere in Behörden und der Medizin. „Wir fühlen uns einfach im Stich gelassen. Es gibt keine Anlaufstellen in Vorarlberg, weder für finanzielle, noch medizinische Unterstützung.“
Nicht nur Bettinas Krankheit ist belastend für die Familie, sondern auch der mangelnde medizinische Beistand in Vorarlberg. „Es kann nicht sein, dass schwer kranke Menschen nach Innsbruck geschickt werden – das ist eine unzumutbare Strapaze für Betroffene", betont Schwester Evelyn.

"Als wäre sie in einem Halbschlaf gefangen"
Für Ehepartner Nenad war es anfangs schwer zu akzeptieren, dass seine Frau plötzlich nicht mehr die Person war, die er kannte. „Früher war sie voller Energie, immer aktiv, hat fast Vollzeit gearbeitet, viel im Haushalt und Garten gemacht – und von einem Tag auf den anderen ging nichts mehr“, bedauert Nenad, der seit über 25 Jahren an Bettinas Seite steht.
Trotz aller Herausforderungen hält er an der Hoffnung fest. „Ich habe keine Angst vor der Zukunft. Ich wünsche mir einfach, dass mehr Menschen aufstehen und über diese Krankheit sprechen. Nur so kann sich etwas ändern.“ Er fordert, dass die Politik endlich handelt, anstatt nur „leere Sprüche zu klopfen“.

Neben seiner Arbeit kümmert er sich um Haushalt und Familie – so gut er kann. „Ich putze, ich koche, ich versuche alles am Laufen zu halten. Natürlich ist das nicht leicht, aber es muss einfach weitergehen.“ Besonders schmerzhaft sei es für ihn zu sehen, wie sehr seine Frau leidet. „Es fühlt sich an, als wäre sie in einem Halbschlaf gefangen, aus dem sie nicht mehr aufwachen kann. Und ich kann nichts tun, außer für sie da zu sein.“
„Nicht gehört, nicht ernst genommen und vergessen“
„Für viele ist die Pandemie vorbei – für uns Betroffene aber nicht.“ Während in der Corona-Krise große Summen in Forschung und Prävention flossen, fühlen sich viele ME/CFS-Betroffene jetzt im Stich gelassen. „Wir werden nicht gehört, nicht ernst genommen und vergessen“, ergänzt sie.

Bettinas größter Wunsch? Mehr Aufmerksamkeit, mehr Forschung und mehr Hilfe für Betroffene in Vorarlberg. Und vor allem die Hoffnung, dass sie irgendwann wieder am Leben teilnehmen kann – so wie früher. "Ich bin noch immer dieselbe, nur als wäre ich in einem Käfig gefangen."
"Ein schwerer Schlag" für die gesamte Familie
Die Krankheit hat nicht nur Bettinas Alltag auf den Kopf gestellt, sondern auch das gesamte Familienleben massiv eingeschränkt.

Besonders spürbar sei die Veränderung in der täglichen Routine. „Meine Mama braucht zum Beispiel Hilfe beim Haarefönen oder bei Toilettengängen – selbst das gemeinsame Essen als Familie ist kaum noch möglich“, erzählt Tochter Alisha. Da Bettina extrem empfindlich auf Lärm und Licht reagiert, müssen Besuche und Gespräche stark reduziert werden. „Wir können nicht einfach als Familie zusammensitzen und uns unterhalten. Wenn mehrere Leute durcheinanderreden, ist das für meine Mama zu anstrengend. Ihr wird schwindlig, sie friert oder bekommt Fieber.“

Trotz der Herausforderungen versucht die Tochter, Hoffnung zu bewahren. „Ich glaube fest daran, dass meine Mama stark genug ist, um das zu schaffen.“ Gleichzeitig belastet die Ungewissheit die Familie: „Wir wissen nicht, ob sie irgendwann wieder gesund genug sein wird, um bei großen Momenten wie meiner Hochzeit dabei zu sein. Die Krankheit ist ein schwerer Schlag für meine Familie“, betont die 20-Jährige abschließend.

Selbsthilfegruppe für Betroffene und Angehörige
Vor einiger Zeit gründete Bettina per WhatsApp eine Selbsthilfegruppe für Post-Covid- und ME/CFS-Betroffene und auch Angehörige in Vorarlberg. Wer der Community beitreten möchte, kann eine Nachricht mit Telefonnummer an folgende E-Mail-Adresse schreiben:
(VOL.AT)