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Wie ist es, 83 Jahre lang in der Südtirolersiedlung zu leben? Paula erzählt.
Wie ist es, 83 Jahre lang in der Südtirolersiedlung zu leben? Paula erzählt. ©VOL.AT/Mayer, Privat, Canva

Südtirolersiedlung: Paula Fleisch (90) lebt seit 83 Jahren in der gleichen Wohnung

„Ich bin hier zu Hause“ – Paula Fleisch lebt seit 83 Jahren in derselben Wohnung in der Südtiroler Siedlung. Erfahren Sie exklusiv, welche prägenden Erlebnisse die 90-Jährige gemacht hat, welche Herausforderungen sie überstanden hat und warum es für sie niemals eine Alternative war, wegzugehen. Tauchen Sie in die faszinierende Geschichte eines außergewöhnlichen Lebens ein – nur auf VOL.AT.
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Als "Südtirolerkind" kam Paula Fleisch im Jahr 1941 mit ihrer Familie nach Bregenz. Die Familie bezog eine Wohnung in der Südtirolersiedlung in Bregenz Vorkloster und Paula Fleisch lebt seit diesem Tag in der gleichen Wohnung. Die VOL.AT-Reporterinnen Mirjam Mayer und Emma Ladstädter haben Paula Fleisch in ihrem Zuhause im obersten Geschoss eines Hauses in der Bregenzer Mariahilfstraße getroffen.

Paula bei einem Spaziergang durch die Siedlung. ©Privat

Wie kam sie zu der Wohnung in der Siedlung?

„Wir sind Südtiroler Umsiedler“, erklärt Paula zur Geschichte ihrer Familie. Ihre Muttersprachen waren Südtirolerisch und Italienisch, sie wurde in Lengmoos in der Nähe von Bozen geboren. „Mein Vater hat sich für Deutsch entschieden, ist dann aber 1940 gestorben“, erinnert sie sich an den zu frühen Tod ihres Papas zurück. Ihre Mutter wurde mit ihren Kindern und der Großmutter aus der Heimat praktisch vertrieben. Zuerst kam die Familie nach Innsbruck, dann nach Dornbirn. „Meine Mutter wollte um jeden Preis nach Bregenz“, erinnert sich die 90-Jährige.

Podcast: Paula Fleisch erzählt vom Leben in der Südtiroler-Siedlung

Zu viert in einem Zimmer

In der Landeshauptstadt angekommen, wohnten sie acht Monate lang im Gasthaus Sonne, zu viert zusammengepresst in einem Zimmer. Ihre Mutter musste sofort in der Militärwäscherei Sulzenbacher arbeiten. Mit etwa sieben Jahren zog Paula dann mit ihrer Familie in die Südtiroler Siedlung. Wie viele junge Familien aus Südtirol zogen sie in eines der letzten beiden Gebäude in der Mariahilfstraße ein.

In diesem Block in der Mariahilfstraße lebt sie seit 83 Jahren. ©VOL.AT

"Es war immer schön"

„Wir hatten ein wunderschönes Leben“, erinnert sich Paula an ihrer Kinderheit in Bregenz zurück. Auf einer großen Wiese, am Standort der heutigen Schule Rieden, konnten sie und ihr Bruder mit anderen Kindern herumtoben. „Da war immer was los“, erinnert sie sich. Sie besuchte die Schule in Bregenz, später musste sie in der Benger-Fabrik arbeiten. „Manche hatten ein besseres Leben, manche ein weniger gutes. Aber alle haben sehr beengt gewohnt“, schildert die Bregenzerin. „Aber es war immer schön. Es war immer die ganze Familie beieinander.“ In der Siedlung wuchsen viele Kinder gemeinsam auf: „Es sind auch so viele tolle Leute aus diesen eigentlich armen Familien herausgekommen. Bekannte Leute, die jetzt natürlich 80, 90 Jahre alt sind und studieren konnten.“

Ein Blick auf einen Teil der Südtirolersiedlung im Jahr 1965 - im Hintergrund ist die Mariahilfkirche zu erkennen. © Foto: Oskar Spang, Stadtarchiv Bregenz

Diskriminierung als "arme Südtirolerkindle"

Nach dem Krieg gab es kaum Spielzeug für die Kinder. „Wir hatten einen Tennisball und eine Kreide, die man in der Schule mitgenommen hat“, erinnert sie sich. Sie spielten Tempelhüpfen und Gummitwist, kletterten auf Bäume. „Wir hatten ein richtiges Landleben.“ Sie beschreibt ihre Jugend als einfach, aber schön. Zur Schule ging sie im Thalbach. Damals kam der Umsturz. Den langen Schulweg sei sie immer mit einer Freundin gelaufen. Andere seien damals bereits nach Marienberg gegangen, hätten eine Lehre gemacht oder seien in die Fabrik gegangen. Sie habe leider zu Letzteren gehört. „Erst im Alter habe ich bemerkt, dass man schon diskriminiert wurde als 'armes Südtirolerkinderle'.“ Als Kind sei ihr das nicht bewusst gewesen, sie habe es nie gespürt. Doch rückblickend habe es einen Unterschied zu ihren Städter-Freundinnen gegeben.

Paula in der Siedlung: Ein Bild aus dem Jahr 1978. ©Privat

Veränderung über die Zeit

In Paulas Haus leben drei Parteien. Jahrelang kannte sie hier jeden Bewohner. „Sie waren alle Erstmieter, so wie ich.“ Heute kenne sie keinen Erstmieter mehr. In der Siedlung habe sich vieles verändert. „Die Jungen sind ausgezogen und fortgezogen, und die Alten sind geblieben“, meint sie. Wenn ein Bewohner sterbe, rücke jemand Neues nach. Viele Jahre habe sie gar nicht bemerkt, was sich in den Siedlungen verändert habe. „Es sind keine Südtiroler Siedlungen mehr“, meint Paula heute. Sie kenne noch einige Bewohner in der Achgasse und am Südtiroler Platz. „Die sind jünger, die sind hier auf die Welt gekommen.“

Die 90-Jährige in ihrer Wohnung in der Südtirolersiedlung. ©VOL.AT

"Früher war keine Tür zugesperrt"

Was sich verändert habe, sei, dass man heute die Türen immer absperre. "Früher war keine Tür zugesperrt, nicht einmal über Nacht", gibt sie zu verstehen. "Das kannst du dir nicht mehr erlauben." Im Haus sei eine türkische Familie mit drei Kindern eingezogen. "Wir mögen sie und sie haben Glück mit uns, weil wir überall ein wenig drüber hinwegsehen", kommentiert Paula. Sie erinnert sich an früher: "Im Parterre-Stock waren auch zwei Kinder, die waren so alt wie mein Bruder." Auch diese seien mittlerweile weg. "Wenn man so lange irgendwo wohnt, sind alle weg. Und die anderen können nicht mehr", gibt sie zu verstehen. Viele ältere Bewohner säßen nur noch zu Hause oder seien schon im Heim.

In der kleinen Wohnung hat sie sich schön eingerichtet. ©VOL.AT

Die Frage eines Umzuges

Ob es ihr je in den Sinn gekommen sei, wegzuziehen? „Ich wollte nie wegziehen“, meint sie. „Früher ist man nicht gereist“, erklärt Paula. „Man hat ja auch kein Geld gehabt.“ Zudem sei die Wohnungsnot groß gewesen. „Wir waren zeitweise zu siebt in der Wohnung: vier Erwachsene und drei Kinder“, so die Bregenzerin. Früher habe man auch kein Geld gehabt, man habe nach dem Krieg nichts besessen. Mit 18 Jahren lernte sie ihren Mann kennen, mit 20 heiratete sie ihn. Später zog er in die gemeinsame Wohnung mit rund 42 Quadratmetern ein. Ihre Kinder hätten einen Freiheitsdrang verspürt und seien ausgezogen, um zu studieren, erklärt sie. „Vielleicht haben sie ihn von uns übernommen, weil wir es nicht gekonnt haben.“ Die Wohnung wurde leerer, und man hatte mehr Platz. Ihre beiden Töchter machten den Doktortitel, auch ihr Sohn hat einen guten Job. „Mittlerweile sind sie in Rente“, meint sie.

In der Siedlung gibt es viele alte Häuser. ©VOL.AT

Einmal habe sie überlegt, wegzugehen, verrät sie. Eine Kollegin in der Fabrik habe in der Schweiz einen Job bekommen. „Jedenfalls wäre ich die ganze Woche weg gewesen und nur Samstag, Sonntag zu Hause“, erinnert sie sich. „Sie wollte unbedingt, dass ich mitgehe. Ja, natürlich wollte ich mit: Wer will das mit 17 Jahren nicht?“ Da es ihr nicht erlaubt wurde, blieb Paula in Bregenz.

Der Flur ist schmal, doch sie hat sich damit abgefunden. ©VOL.AT

Mit 14 Jahren begann sie in der Fabrik zu arbeiten

Gleich nach der Schule, mit 14 Jahren, musste Paula in einer Fabrik arbeiten. „Ich habe viel geweint, aber es hat mir nichts ausgemacht“, meint sie. Zusammen mit ein paar Mitschülerinnen arbeitete sie als Laufmädchen, später durften sie an die Maschinen. „Ich glaube, wir haben den Betrieb besser gekannt als der Chef“, erklärt sie und lacht. Jahrelang nähte sie dann lange Männerunterhosen. Als ihr drittes Kind auf dem Weg war, wollte sich die Bregenzerin weiterbilden: Sie arbeitete zehn Jahre lang als Servicekraft bei Hilde Dorner im „Sporthaus“. Das heutige „Wirtshaus am See“ war damals ein Schönwetter- und Sommerbetrieb, wie sie erklärt. Später wechselte sie daher an den Gebhardsberg.

83 Jahre lang lebt Paula in der Mariahilfstraße. ©Privat
Ein Blick in ihre Küche mit Esszimmertisch. ©VOL.AT

"Mir geht's hier bestens!"

In ihrer Wohnung wurde über die Jahre viel angepasst. Einbaumöbel mussten her, da Möbel von der Stange entweder zu groß oder zu klein waren, wie sie erklärt. Ihr Mann arbeitete als Schreiner bei der Stadt und laufend wurden Änderungen vorgenommen. „Wir haben immer viel gearbeitet, damit die Kinder studieren konnten und damit wir es uns dann schön machen können“, sagt sie. „Mir geht’s hier bestens!“, sagt sie heute. Sie kenne allerdings auch jüngere Frauen, die die steilen Stiegen im Altbau nicht mehr hinaufkommen. „Das muss man als Therapiestiege betrachten“, erklärt sie. Ihre Mutter und Großmutter hätten es schließlich auch geschafft. „Die kleine Wohnung hat mir nicht immer gepasst“, gibt Paula zu. Doch aufgrund der Kosten für eine andere Wohnung nahm sie die beengten Wohnverhältnisse in Kauf. „Ich bin hier zu Hause“, verdeutlicht die 90-Jährige. „Wenn man ein Haus hat, dann zieht man ja auch nicht aus, oder? Dann geht man auch nicht weg.“

Die steile Treppe sieht Paula als "Therapiestiege". ©VOL.AT

Siedlung wurde der Zeit angepasst

In 83 Jahren hat sich in der Siedlung vieles verändert. So gibt es seit Kurzem mit dem JUB (Jugend Bregenz) auch einen neuen Jugendtreff. „Ich finde das sehr wichtig“, meint Paula. Die Jugend hänge zu viel am Handy, so lerne man niemanden kennen. Es braucht Orte als Treffpunkt. „Da treffen sie sich und sprechen miteinander. Solch ein Austausch ist doch wichtig.“ Es gebe alle 10 bis 20 Jahre einen Generationswechsel. „Das gehört sich so“, erklärt die 90-Jährige. Die Neuerungen und Entwicklungen der letzten Jahre seien unvorstellbar.

Rechts im Bild das neue Jugendzentrum "JUB" - links die Straße, an der Paula wohnt. ©VOL.AT

Im Vergleich zu früher gebe es heutzutage schöne Blumen um die Siedlungen. Die Wege in den Siedlungen wurden asphaltiert. „Ich finde, dass man das überall sehr schön gemacht hat.“ In der Siedlung habe sich vieles zum Vorteil entwickelt, verdeutlicht Paula. Bänke, Sitzgelegenheiten und schöne Wiesen zählt sie auf. „Es wird gut betreut. Es wird sogar Schnee geräumt, was wir früher immer selbst gemacht haben“, so die 90-Jährige. Man habe sich der Zeit angepasst. „Es konnte nicht auf dem alten Niveau bleiben“, meint sie. Auch heute, viele Jahre später, gefällt Paula das Leben in der Südtirolersiedlung. „Irgendwie sind die Siedlungen schön“, meint sie.

Die Südtirolersiedlung hat einen ganz speziellen Charme. ©VOL.AT

Modernisierungspläne: "Ich finde es gut"

Die langjährige Bewohnerin der Südtiroler-Siedlung beschäftigt sich auch mit den Sanierungs- und Umbauplänen von Stadt und Vogewosi. Eine Bekannte habe in einem kleinen Block in der Achgasse gelebt, erzählt sie. Die Wohnung sei nach ihrem Tod nie nachbesetzt worden, da man den Block abbauen wollte. Schon die Elektrik entspreche nicht mehr den heutigen Ansprüchen. In den alten Wohnungen gibt es Nachtspeicheröfen, aber im kalten Winter heizt Paula mit einem Zusatzherd. Vor ein paar Jahren sei zudem Grundwasser in den Keller gelaufen.

„Man muss in einem Haus solche Arbeiten auch nach 40, 50 Jahren machen“, meint sie. Wie bei einem Einfamilienhaus sei es auch mit einer Siedlung: Man müsse Leitungen erneuern, Reparaturen durchführen. „Ich finde es gut, dass man das macht.“ Sie ist sich sicher, dass es sie persönlich nicht mehr betreffen werde. „Die letzten zwei Bauten stehen noch lange. Wo sollen sie denn mit den Leuten hin?“ In der Südtirolersiedlung wohne man günstig, besonders im obersten Stockwerk. „Ich persönlich finde, es ist eine gute Entwicklung“, meint sie abschließend zu den Plänen. (VOL.AT)

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(VOL.AT)

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