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Vom Cover-Design für Lou Reed zum Schreiben erfolgreicher Kinderbücher

Die gebürtige Dornbirner Autorin Verena Petrasch spricht im WANN & WO-Sonntags-Talk über ihren Werdegang, Stationen in Wien, Göteborg oder bei Stefan Sagmeister in New York und wieso ihr das Schreiben von Kinderbüchern so sehr am Herzen liegt.

WANN & WO: Vom Grafikdesign zum Schriftstellertum, vom Gestalten eines Covers für Lou Reed zum Schreiben von Kinderbüchern – passt sich Ihre Karriere dem persönlichen Lebensweg an, inzwischen sind Sie ja dreifache Mutter?

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Verena Petrasch: Es ist interessant, dass bei Kinderbuchautoren oft angenommen wird, sie würden schreiben, weil sie Kinder haben, beziehungsweise dass sie mit den Kindern / durch die Kinder zu schreiben beginnen. Für mich war Schreiben immer ein wesentlicher Bestandteil meines Lebens. Bereits als Kind verfasste ich unzählige Romananfänge, jedoch fehlte mir damals die Ausdauer, um dranzubleiben. Ich schrieb stundenlang Tagebuch, lernte, indem ich die Dinge aufschrieb, und in meinen grafischen Skizzenbüchern findet man fast nur Text. Für mich war von Anfang an klar: Eines Tages werde ich ein Buch schreiben! Meine Affinität zum Grafikdesign steht meiner Meinung nach nicht im Widerspruch zum Schreiben: Auch wenn ich Skizzenbücher ohne Skizzen habe, so brauche ich dennoch immer ganz klare Bilder vor meine Augen. Ohne ein konkretes Bild, das ich nicht nur innerlich sehe, sondern auch spüre, kann ich weder gestalten noch schreiben. Und wenn man sich die Kinderliteratur ansieht, dürfte der Weg übers Grafikdesign zum Schreiben gar nicht so unüblich sein. Man denke nur beispielsweise an Christine Nöstlinger oder Cornelia Funke. Das Schreiben für Kinder ist etwas sehr Bildhaftes. Eine Affinität, bzw. eine gute Verbindung zur Welt der Bilder kann also hilfreich sein.

Autorin Verena Petrasch im WANN & WO-Sonntags-Talk. ©handout/Petrasch

Dass ich am liebsten für Kinder schreibe, liegt daran, dass das die Welt ist, die ich in mir trage. Die Welt, in der ich mich am wohlsten fühle. Astrid Lindgren sagte einmal: „Und dann schreibe ich so, wie ich mir das Buch wünsche, wenn ich selbst ein Kind wäre. Ich schreibe für das Kind in mir.“ So geht es mir auch. In erster Linie schreibe ich für das kleine Mädchen in mir. Und dieses Mädchen lebt in einer Welt, in der alles möglich ist. Eine Welt ohne Grenzen und Vorurteile, eine idealistische Welt voller Hoffnung und Farben. Ich bin fest davon überzeugt: In jedem Kind steckt ein Held. Jedes Kind hat Flügel und kann damit fliegen. Jedes Kind kann „Großes“ erreichen. Wie schade, dass so vieles von dem, was in unseren Kindern steckt, erstickt wird, weil es den Eltern und dem pädagogischen System oft noch immer nicht gelingt, unseren Kindern auf Augenhöhe zu begegnen, sie als die zu sehen die sie wirklich sind und all das Schöne und Einzigartige aus ihnen herauszukitzeln, dass in ihnen schlummert. In meinen Büchern werden Kinder nicht erstickt. Vielleicht versucht es ein Antagonist. Aber die Kinder sind stark, halten dagegen und erblühen schlussendlich zu riesengroßen, wunderschönen Blumen, die einen ganz besonderen und einzigartigen Zauber in sich tragen. 

WANN & WO: Sie sind in Dornbirn aufgewachsen. Wieso haben sie sich entschlossen, in Wien an der Angewandten und dann auch in Göteborg zu studieren?

Verena Petrasch: Dass ich nach dem Gymnasium Grafikdesign studieren wollte, stand fest, seit ich 17 Jahre alt war. Mich interessierten die Kunstunis in der Schweiz und in Österreich. Die Aufnahmeprüfungen in Österreich lagen zeitlich günstiger, also bewarb ich mich an der Kunstuniversität in Linz und an der Angewandten in Wien. Ich wurde an beiden Unis genommen und entschied mich für die Angewandte. Nach 18 Jahren Dornbirn war eine große Stadt wie Wien sehr reizvoll für mich, und die Angewandte zog mich magisch an. Ich habe diese Entscheidung nie bereut. Meine Zeit in Wien an der Angewandten war großartig! Ich habe viel gelernt, experimentiert und beste Freunde fürs Leben gefunden. Wien wurde zu meiner zweiten Heimat. Viele Jahre später bin ich dann aber doch noch in Linz gelandet. Seit drei Jahren lebe ich mit meiner Familie in Linz und habe hier meine dritte Heimat gefunden.

Hier bei einer Lesung in St. Georgen. ©handout/Petrasch

In Göteborg habe ich ein Auslandssemester gemacht. Ich entschied mich recht spontan dazu, dieses Abenteuer anzutreten, als ich einen Aushang mit Restplätzen am schwarzen Brett hängen sah. Der Norden Europas hat mich schon immer fasziniert und ist bis heute meine liebste Destination. Und weil schon damals ein Kinderbuchautorenherz in mir schlug, gab es keine bessere Wahl als Schweden für mich. Obwohl ich mir gleich in der ersten Woche den Fuß brach, verlebte ich eines der schönsten Halbjahre meines Lebens in Göteborg. Ich bin seitdem nicht mehr dorthin zurückgekehrt. Ich möchte die wunderbaren Erinnerungen nicht durch neue verwischen.

WANN & WO: Ihr grafisches Können brachte Sie auch zu Stefan Sagmeister in sein Studio in New York. Welche Erfahrungen konnten Sie dort sammeln?

Verena Petrasch: Die Zeit in New York bei Stefan Sagmeister bezeichne ich gerne als „Zeit der Narrenfreiheit“. Das Studium lag gerade mal ein halbes Jahr hinter mir, ich war unglaublich motiviert, sog jedes brauchbare Input auf wie ein Schwamm und glaubte, die Welt erobern zu können. Da war New York, diese Stadt der Vielfalt, in der alles möglich scheint, natürlich der ideale Ort für mich, und Stefan mit seinem Team die perfekte Arbeitsumgebung. Ich durfte an wunderschönen Projekten arbeiten und mich gestalterisch ausleben. An der Angewandten hatte einer unserer Professoren einmal gesagt: „Probiert euch jetzt und hier aus, experimentiert, denn wenn ihr später aus der Uni herauskommt und für Auftraggeber arbeitet, habt ihr nicht mehr so viele Freiheiten.“ Das traf für Stefans Büro nicht zu. Er hat in der Designbranche, wie mir scheint, Narrenfreiheit, und diese Freiheit durfte ich mitleben. Er war ein großartiger Chef, der mir viel Vertrauen entgegenbrachte. Was mich faszinierte, war seine Fähigkeit, die Dinge zu sehen und auf den Punkt zu bringen: Wenn wir einen Entwurf besprachen, schaute er drauf, und traf immer sehr präzise diese eine kleine Stellschraube, an der noch zu drehen war, damit das Ding so richtig gut wurde.

Leider hatte die ganze Sache auch eine Schattenseite, denn ich kam als hochmotivierte Grafikdesignerin nach Europa zurück. Mir standen zwar viele Türen offen, aber ich wurde sehr rasch gebremst und desillusioniert, weil ich nie wieder, weder als Angestellte noch als Selbständige, diese gestalterische Freiheit leben durfte, die mich in New York wie auf einer wunderbaren, riesengroßen Welle getragen hatte. Aber im Grunde war das ganz gut so, denn so war ich offen für Neues und wagte den Schritt ins Schreiben, den ich noch immer als die beste berufliche Entscheidung meines Lebens empfinde.  

"Sophie im Narrenreich" von Verena Petrasch. ©handout/Petrasch

WANN & WO: Gab es jemals Pläne, Österreich völlig hinter sich zu lassen oder hatten Sie immer im Sinn, wieder zurückzukehren?

Verena Petrasch: Die Welt ist so groß, so spannend, so interessant. Es ist wunderbar zu beobachten, wie sehr sich der eigene Horizont weitet, je mehr man sich auf Neues, auf Anderes, auf Unbekanntes einlässt. Besonders in der Zeit nach meinem Studium bis zur Geburt meines ersten Sohnes gab es für mich nichts Aufregenderes, als andere Orte, andere Menschen, andere Kulturen und andere Lebensweisen kennenzulernen. Und ich stellte fest, dass mir dieses Kennenlernen am besten gelang, wenn ich nicht nur Urlaub machte, sondern an einem Ort für eine Weile wirklich lebte. Man lernt einen Ort und seine Bewohner ganz anders kennen, wenn man nicht Tourist ist, sondern selbst zum Bewohner wird. Man gliedert sich ganz anders ein und geht mit anderen Augen durch die Straßen: Man kauft Lebensmittel in Geschäften und auf Märkten und verarbeitet sie zu Speisen, man besitzt eine eigene Bibliothekskarte und einen Fahrausweis für die öffentlichen Verkehrsmittel. Man lebt im Rhythmus der Stadt. Man hat genug Zeit, sein Lieblingscafé und seinen Lieblingsplatz zu finden, in die Besonderheiten, Sprache und die Gewohnheiten der Menschen einzutauchen und Gespräche zu führen, die über den üblichen Touristen-Smalltalk hinausgehen. Man trifft einen lieben Menschen unter Umständen mehrmals und knüpft mit viel Glück sogar eine Freundschaft fürs Leben. Nach dem Studium war ich offen für alles. Es öffneten sich Türen, ich ging durch und ließ mich überraschen. Diese Türen führten mich von Wien nach Berlin, von Berlin nach New York, von New York nach München, von München zurück nach Vorarlberg und während meines Sabbaticals nach Peru, Südfrankreich, Italien und Island. Die Tür, die sich zuletzt geöffnet hat, war jene nach Linz. Das war die Tür „Liebe“.

Wenn Verena Petrasch schreibt, spricht das kleine Mädchen aus ihr. ©handout/Petrasch

WANN & WO: Gerade im gestalterischen Bereich ist aktuell die Künstliche Intelligenz in aller Munde. Welche Auswirkungen hat die Technologie ihrer Meinungen nach auf die Kreativbranche?

Verena Petrasch: Mit dem Ars Electronica Center ist dieses Thema ja mehr oder weniger ganz in meiner Nähe. Mein sechsjähriger Sohn liebt alles, was mit Elektronik, Technologie und Robotern zu tun hat, also verbringe ich recht viel Zeit mit ihm im AEC. Ich lerne bei jedem Besuch etwas Neues und staune. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die die künstliche Intelligenz im kreativen Bereich verteufeln oder gar fürchten. Ich glaube nicht, dass eine AI jemals in der Lage sein wird, einen menschlichen Künstler zu ersetzen. Die AI ist faszinierend, sie kann Dinge, die wir Menschen nicht können (obwohl wir sie selbst programmiert haben), und das auch noch viel schneller und präziser, als wir jemals dazu in der Lage wären, aber das Resultat wird schlussendlich immer das von einer Maschine sein. Dieses klein bisschen „Unperfekt“, dieses Etwas, das nicht greifbar und schon gar nicht programmierbar ist, das ein Kunstwerk von innen heraus zum Leuchten bringt, kann in meinen Augen niemals durch eine Maschine kreiert werden. Ich denke dabei gern an die Musik: Bis zu einem gewissen Grad kann ein musikbegeisterter Mensch sich durch Üben eine sehr gute Technik aneignen. Das, was aber letztendlich die Herzen der Zuhörer trifft, ist genau dieses gewisse Etwas, das über die reine Technik hinausgeht. Nenne man es, wie man wolle: „Seele“, „Genie“, „Liebe“?

Die Kunst steht in ständiger Veränderung. Mit neuen Technologien ergeben sich neue Möglichkeiten. Es ist spannend, sich darauf einzulassen und zu beobachten, wohin die Reise führt. Als kreativer Mensch muss man wahrscheinlich einfach immer beweglich bleiben. Als damals die Fotografie aufkam, gab es auch Stimmen, die das Ende der Kunst voraussagten. Und was passierte? Es öffneten sich neue Türen: Zum einen schlug die (bildende) Kunst neue, spannende Wege ein, zum anderen entwickelte sich aus der Fotografie heraus eine ganz neue Kunstgattung. Sowohl ein Neben- als auch ein Miteinander zeigte sich als möglich, gut und bereichernd. So wird es auch mit der künstlichen Intelligenz im kreativen Bereich sein. Ist es im Grunde schon.

WANN & WO: Was zeichnet für Sie gutes Design aus, wie charakterisieren Sie den Begriff Literatur?

Verena Petrasch: Design muss in meinen Augen drei Dinge erfüllen: Erstens: Es muss ästhetisch ansprechend sein. Zweitens: Es muss funktionieren. Und drittens (das ist die Zugabe): Es soll in irgendeiner Form überraschen (damit es sich von der Masse abhebt und in Erinnerung bleibt). Gutes Design ist somit also aus meiner Sicht eine außergewöhnliche Idee, die in einem künstlerisch anspruchsvollen Kleid daherkommt und einwandfrei funktioniert. Und das alles natürlich in Kombination mit diesem gewissen Etwas, das so viele Namen hat und trotzdem nicht greifbar ist.

Der Begriff Literatur leitet sich aus dem Lateinischen „litteratura“ ab, was so viel bedeutet wie „das Geschriebene“. Somit könnte man also sagen, dass Literatur alles Geschriebene ist. Aber natürlich wird das in unserer heutigen Betrachtung des Begriffs etwas differenzierter gesehen. Ich möchte an dieser Stelle aber keinen literaturwissenschaftlichen Exkurs machen sondern ganz subjektiv antworten: Für mich ist gute Literatur das geschriebene Wort, das mich tief in meiner Seele berührt und etwas in mir bewegt. Wenn ich nach dem Lesen nicht mehr die bin, die ich vorher war, weil irgendetwas in mir aufgegangen und gewachsen ist, habe ich einen gelungenen Text gelesen.

Verena Petrasch bei einer Lesung in Kuchl. ©handout/Petrasch

WANN & WO: Inzwischen haben Sie sich verstärkt auf das Schreiben von Kinderbüchern fokussiert. Wie unterscheidet sich das Verfassen von Texten für ein jüngeres Publikum von der Erwachsenenliteratur?

Verena Petrasch: Als ich anfing zu schreiben, machte ich mir keine Gedanken darüber, welche Altersklasse ich mit meinen Büchern ansprechen will. Da war einfach eine Geschichte, die niedergeschrieben werden wollte. Die Geschichte hat sich ihr Zielpublikum selbst gesucht. Und so ist es mit jeder Idee, die ich zu Papier bringe. Es ist das Kind in mir, das mir die Geschichten einflüstert, und offensichtlich liebt dieses Kind Geschichten für ein jüngeres Publikum. Somit denke ich auch nicht groß darüber nach, wie ich schreiben muss, wenn ich für Kinder schreibe. Jede Geschichte hat ihr eigenes Tempo, ihre eigene Stimmung und somit auch ihre eigene Sprache. Welche Sprache auch immer eine Geschichte verlangt, man darf sie den Kindern zumuten. Wenn sie etwas nicht verstehen, fragen sie sowieso nach. Und durchs Fragen lernen sie. Wenn ich mich nun beispielsweise ganz bewusst für eine extrem reduzierte Sprache und simpelste Satzkonstruktionen entscheide, weil ich meinen kleinen Lesern nichts als mundgerechte, gut verdauliche Sprachhappen zumuten möchte, obwohl die Grundstimmung des Buches etwas ganz anderes verlangt, wäre das Buch nicht mehr authentisch. Und das würden die Kinder spüren. Wahrscheinlich würden sie das Buch nach nur wenigen Seiten weglegen und nie mehr öffnen. Kinder wollen genauso ernst genommen werden wie Erwachsene. Sie lieben das Echte und nicht das, was speziell für sie aufbereitet wurde. Das können wir schon bei den Allerkleinsten beobachten: Wenn man einem kleinen Kind die Wahl zwischen einem Spielzeugschlüsselbund und einem echten gibt, wird es mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nach dem Echten greifen und große Freude damit haben.

Ein weiteres Buch von Verena Petrasch: "Der Händler der Töne". ©handout/Petrasch

Ich tue mir schwer mit diesen Einteilungen in Altersklassen, und ganz besonders mit dieser strikten Trennung zwischen Kinder- und Erwachsenenliteratur. Warum sollten Erwachsene nicht auch Kinderbücher lesen dürfen? Und warum sollte ein (lese)reifer Zehnjähriger nicht Bücher für Erwachsene lesen, wenn sie ihn interessieren? Mein großer Sohn ist jetzt sechs Jahre alt. Kürzlich bekam er meinen ersten Roman „Sophie im Narrenreich“ in die Hände und fragte, ob wir das Buch gemeinsam lesen könnten. Mein Verlag empfiehlt „Sophie im Narrenreich“ für junge LeserInnen und Leser ab ca. 10 Jahren. Mittlerweile sind wir schon bei der Hälfte des Buches angekommen, und jeden Abend ist mein Sohn traurig, wenn ich das Buch zuklappe, weil er ins Bett muss. Im Kindergarten hat er erzählt, dass wir gerade „Sophie im Narrenreich“ lesen. Sein Pädagoge meinte darauf: „Aber dafür bist du doch noch viel zu jung!“ Es macht mich traurig, wenn ich so etwas höre. Wenn ein Kind sein Herz und seinen Geist für etwas öffnet, sollte man diese Begeisterung nicht durch derartige Aussagen zerstören.

WANN & WO: Wie wichtig ist die Message, welche Werte wollen Sie Kindern mit ihrer Arbeit vermitteln?

Verena Petrasch: Ich schreibe in der Regel über Themen, die mich so stark beschäftigen oder faszinieren, dass sie in mir eine Art Eigenleben entwickeln. Ich finde es extrem spannend, schreibend zu beobachten, wohin das, was da in mir brodelt, führt. So entstehen meine Geschichten. Weil sie Themen behandeln, die mich in irgendeiner Form stark berühren, steckt natürlich ganz automatisch die eine oder andere Botschaft in meinen Büchern. Aber ich halte nichts davon, den Zeigefinger hochzuhalten und moralisch zu sein. Ich versuche immer auch, einen Perspektivenwechsel anzuregen. Nichts geschieht ohne Grund. Niemand ist nur gut oder nur böse. Ich versuche Charaktere zu zeichnen, die „menschlich“ und somit unperfekt sind. Charaktere mit mehreren Gesichtern, die in dem Moment zu sich finden, in dem sie sich dazu entschließen, mutig zu sein und Verantwortung zu übernehmen. Sobald sie anfangen, sich mit all ihren Ecken und Kanten anzunehmen und zu lieben, wachsen sie über sich selbst hinaus. Und sobald sie anfangen, ihr Gegenüber mit all seinen Ecken und Kanten anzunehmen und zu lieben, entsteht echte Freundschaft und echter Zusammenhalt. Das ist der Moment, in dem etwas aufgeht und alles möglich wird.

WANN & WO: Wie gehen Sie als Autorin mit der übermächtig erscheinenden, digitalen Konkurrenz um? Wie bringt man in Zeitalter von TikTok, YouTube, Netflix & Co. Kinder dazu, Bücher zu lesen?

Verena Petrasch: Es bedrückt mich manchmal, dass der Kinderliteratur im Vergleich zur Erwachsenenliteratur viel weniger Aufmerksamkeit gewidmet wird. Manchmal könnte man fast das Gefühl haben, die Kinderliteratur würde belächelt und irgendwie geduldet, aber nicht wirklich ernst genommen. An dieser Stelle plädiere ich dringend für mehr Gleichberechtigung und Wertschätzung der Kinderliteratur! Denn wer als Kind nicht liest, wird auch als Erwachsener kein Leser sein. Wer nicht als Kind die Magie der Bücher kennenlernt, wird sie auch als Erwachsener nicht spüren. Kinderbuchautoren tragen in meinen Augen eine große Verantwortung: Sie sind diejenigen, die in Kindern durch ihre Geschichten die Begeisterung für Bücher und fürs Lesen entflammen können. Eine Begeisterung, die für gewöhnlich ein Leben lang anhält, und die auch der omnipräsenten digitalen Konkurrenz trotzen wird. Für einen Menschen, der Bücher liebt, koexistiert das Digitale, stellt aber keine Konkurrenz zum Buch dar. Jedoch funktioniert das nur, wenn die Eltern und die Pädagogen tatkräftig mithelfen, indem sie den Kindern von Klein auf vorlesen, ihnen das Lesen vorleben, ihnen das Buch als selbstverständlichen Alltagsgegenstand zur Verfügung stellen, mit ihnen in Bibliotheken gehen, Lesungen besuchen, etc… Wenn das Buch von Klein auf eine Selbstverständlichkeit für ein Kind ist, wird es dieses Medium niemals in Frage stellen. 

WANN & WO: Wie gehen Sie als deutschsprachige Autorin mit Gender-Themen um?

Verena Petrasch: Ehrlich gesagt, macht es mich traurig, dass dieses Thema überhaupt ein Thema sein muss. Sollte es nicht die selbstverständlichste Sache der Welt sein, dass jeder so sein kann, wie er will, solange er anderen damit nichts Böses tut? Ist es nicht vermessen, sich über andere zu stellen, indem man definiert, was „normal“ und was „anders“ ist? Wie kann man sich herausnehmen, Homosexualität als abnormal und Heterosexualität als normal zu bezeichnen? Oder warum soll beispielsweise ein Mensch mit Downsyndrom weniger wert sein als ein Mensch ohne? Ich würde mir wünschen, dass die Menschen, die solche Urteile aussprechen, mal einen Perspektivwechsel einnehmen würden. Dann würden sie erkennen, dass sich für einen Menschen mit Downsyndrom sein Leben als das Natürlichste und Selbstverständlichste der Welt anfühlt, und dass der Homosexuelle sich komplett verbiegen und gegen seine Natürlichkeit leben müsste, wenn er versuchen würde, so zu leben wie die, die behaupten „normal“ zu sein.

Mir fällt zu diesem Thema eine kleine Anekdote mit meinem ältesten Sohn ein: Seine Lieblingsfarbe war bis ins zweite Kindergartenjahr hinein rosa. Als ich mit ihm Schuhe kaufen ging, verliebte er sich in rosarote Glitzerschuhe. Ich freute mich, dass er Schuhe gefunden hatte, die seine Augen zum Leuchten brachten. Die Verkäuferin jedoch schaute mich ungläubig an und meinte: „Das sind aber doch Mädchenschuhe!“ Ich kaufte sie trotzdem, und mein Sohn ging freudestrahlend in seinen neuen Schuhen nach Hause. Die Freude hielt jedoch nicht lange an. Im Kindergarten bekam er von Gleichaltrigen zu hören: „Ha ha, du trägst ja Mädchenschuhe!“ Ich fragte meinen Sohn, wer denn darüber bestimme, dass rosarot eine reine Mädchenangelegenheit sei, und ich versuchte ihn dazu zu ermutigen, zu seiner Lieblingsfarbe zu stehen. Leider hielten die Hänseleien an, und irgendwann beschloss mein Sohn resigniert, dass nun blau seine Lieblingsfarbe sei, und die Schuhe wanderten in eine Ecke. Die Themen Toleranz und Gleichberechtigung beginnen also sehr früh, beispielsweise eben mit den Farben. Wenn unseren Kindern noch immer vermittelt wird, dass gewisse Farben nur für Mädchen und andere nur für Buben sind, wie wollen sie dann für „größere“ Dinge Toleranz entwickeln?

Cover-Design für Lou Reed. ©handout/Petrasch

Was die Gender-Thematik betrifft, finde ich es bitter, dass die faire Gehalts- und Einstellungsverteilung zwischen Mann und Frau noch immer problematisch ist. Ich würde mir wünschen, die Frauen könnten dieses alte Erbe, das noch immer auf ihren Schultern lastet, ablegen und selbstbewusster in Gehaltsverhandlungen hineingehen. Und ich wäre glücklich, wenn wir an einen Punkt kommen würden, an dem wir keine Quotenregulierungen mehr brauchen. Denn es ist ja für eine Frau auch kein angenehmes Gefühl, zu wissen, dass sie als „Quotenfrau“ eingestellt wurde. Ich persönlich möchte einen Job bekommen, weil ich dafür am besten qualifiziert bin und nicht, weil ich eine Frau bin. Das fühlt sich ja auch schon wieder irgendwie diskriminierend an. Sowohl für die Frau, die sich nie sicher sein kann, ob ihre Fachkenntnisse auch wirklich geschätzt werden, als auch für den Mann, der unter Umständen besser für eine Stelle geeignet gewesen wären. Zur allgemeinen Zufriedenheit kann das meines Erachtens nicht führen.

WANN & WO: Was treibt Verena Petrasch zur Weißglut? Und wie kann Verena Petrasch abschalten?

Verena Petrasch: Zur Weißglut treibt mich, wenn Menschen nicht in Verantwortung gehen. Wenn sie in eine passive Opferrolle fallen, statt etwas zu ändern. Das betrifft viele Bereiche des Lebens: den Klimawandel, die Politik, die Begleitung unserer Kinder, das zwischenmenschliche Miteinander, … Ja, wir leben in einem trägen System, wir tragen alle unsere Rucksäcke, und der Mensch ist von Natur aus ein Gewohnheitstier, aber ich bin felsenfest davon überzeugt, dass es nicht an den anderen, sondern an jedem einzelnen von uns liegt, etwas zu ändern, etwas besser zu machen. Nicht die anderen müssen damit anfangen, ICH muss den ersten Schritt setzen. Vielleicht kann ich keinen großen Schritt setzen, aber wenn jeder sich dazu entschließt, ein bisschen aus seiner Komfortzone herauszukommen und zu tun, was ihm möglich ist, können wir die Welt vielleicht doch noch retten.

Abschalten ist momentan nicht so einfach. Als Mama von drei kleinen Kindern gibt es eigentlich keine Pausen. Ich stehe um 6 Uhr morgens auf und falle um 23 Uhr ins Bett. Unsere 2,5-jährigen Zwillinge schlafen bis heute nicht durch. Im Idealfall bekomme ich mal 4 Stunden Schlaf am Stück. Das ist dann Abschalten. Tagsüber kann ich mir hin und wieder ein paar ruhige Minuten bei einer Tasse Kaffee erschleichen. Abends bleibt mir von Zeit zu Zeit eine halbe Stunde zum Lesen, wenn die Kinder schlafen, die Jausenboxen gerichtet und ausnahmsweise nichts abzuarbeiten ist. Am meisten Kraft schöpfe ich momentan aus den kurzen Momenten des Innehaltens. Wenn meine Kinder gerade mal friedlich miteinander spielen und es mir gelingt, nicht an das zu denken, was noch alles zu erledigen ist, sondern ich sie einfach nur in ihrem selbstvergessenen Tun betrachten kann. Oder wenn ich mich Abends, wenn sie schlafen, im Halbdunkel an ihr Bett setze und ihnen beim Schlafen zusehe. Da wird mir immer ganz warm ums Herz, und ich spüre: Egal, wie wenig Zeit ich momentan auch immer zum Abschalten habe, egal, wie sehr ich das Klavierspielen, das Musikhören, das stundenlange Schreiben und Lesen, das Schwimmen, das Reisen und die ungestörte Zeit mit meinem Mann manchmal vermisse, ich möchte mit niemandem auf der Welt tauschen. Meine kleine wilde Familie, die mich seit bald sieben Jahren zu einer Dauermarathonläuferin gemacht hat, ist für mich das größte Geschenk überhaupt.

WANN & WO: Was steht als Nächstes bei Ihnen auf dem Programm, woran schreiben oder arbeiten Sie gerade?

Verena Petrasch: Wie schon angedeutet, bin ich derzeit in erster Linie Mama. Immerhin gelingt es mir, ab und an eine Geschichte fürs Radio zu schreiben und Lesungen zu halten. Das tut mir gut. Die literarische Arbeit ist nämlich mehr als nur Beruf für mich. Sie ist auch mein Ausgleich, meine Entspannung, meine Erfüllung. Wenn ich Zeit zum Schreiben finde, bin ich glücklich. Und wenn ich zu wenig Zeit zum Schreiben finde, bin ich schlecht gelaunt. Manchmal hadere ich damit, dass ich momentan zu wenig Zeit zum Schreiben habe. Aber dann betrachte ich meine Kinder und bin ich einfach nur glücklich. Denn es ist das größte Geschenk, für sie da sein zu dürfen, sie begleiten und ihnen beim Aufwachsen zuschauen zu dürfen, ihnen das eine oder andere mitzugeben und sie hoffentlich für das, was da draußen auf sie wartet, zu stärken. Denn es warten große Herausforderungen auf sie. Sie werden in einer Welt leben müssen, die im Begriff ist zu sterben, weil die Generationen vor ihnen es durch ihre Kurzsichtigkeit vermasselt haben. Im Grunde benötigen wir gerade jetzt eine Generation von Kindern, die so sind wie meine Protagonisten: Kinder, die sich die Flügel nicht stutzen lassen, die über sich hinauswachsen und die Welt retten werden. Ich würde mir wünschen, dass meine Kinder einen Beitrag dazu leisten werden. Dass sie Verantwortung übernehmen, und den Mut, die Ausdauer und den Ideenreichtum haben werden, es anders zu machen. Besser. Und genau deswegen brauche ich nicht zu hadern, wenn ich jetzt gerade zu wenig Zeit zum Schreiben finde, denn meine Kinder auf das, was da draußen auf sie wartet, vorzubereiten, ist eigentlich momentan meine allerwichtigste Aufgabe. Außerdem gehen die Kleinen ab Herbst in den Kindergarten und der Große kommt in die Schule. Spätestens dann setze ich mich an den nächsten Roman. Das Konzept dafür steht, die ersten Kapitel sind schon geschrieben. Ich mag aber noch nicht darüber sprechen.

WANN & WO: Inzwischen leben Sie mit ihrer Familie in Linz. Welche Verbindungen pflegen Sie nach Vorarlberg, wie groß ist das Heimweh?

Verena Petrasch: Linz ist zum Glück nicht am anderen Ende der Welt. Wenn mich das Heimweh plagt, brauche ich mich nur in den Zug zu setzen, und bin in fünf Stunden in Vorarlberg. Ich habe ein Klimaticket und freue mich, wenn ich es benützen kann. Mein Mann, der gebürtiger Oberösterreicher ist, mag Vorarlberg zum Glück auch sehr gern. Als ich zu ihm nach Linz zog, haben wir vereinbart, dass wir trotzdem weiterhin ausreichend Zeit in Vorarlberg verbringen werden, und beide Orte ein Zuhause für uns sein werden. Aufgrund unserer schul- und kindergartenpflichtigen Kinder ist Linz derzeit zwar schon unser Lebensmittelpunkt, aber je älter die Kinder werden, desto einfacher wird das gemeinsame Reisen, und desto mehr Zeit werden wir auch wieder in Vorarlberg verbringen können. Ich bin noch immer sehr stark durch meine Freunde und meine Familie mit Vorarlberg verbunden. Und natürlich bin ich jedes Mal sehr glücklich, wenn ich eine Lesungsanfrage aus Vorarlberg bekomme. Die Strecke Linz-Vorarlberg-Vorarlberg-Linz fühlt sich für mich sehr gut an, denn egal in welche Richtung ich fahre, ich bewege mich immer in Richtung „Zuhause“.

Zur Person

Name, Alter: Verena Petrasch, 42 Jahre
Ausbildung, Beruf: Grafikdesignerin und Schriftstellerin
Aufgewachsen in: Dornbirn, Wohnort: Linz
Familienstand: In Partnerschaft lebend
Motto, Zitat: "I have a dream." (Martin Luther King)

Infos: www.verenapetrasch.com

(WANN & WO)

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