Prigoschin beordert Wagner-Truppen zurück in Stützpunkte
Damit wolle er Blutvergießen vermeiden, heißt in einer Audio-Botschaft von Prigoschin am Samstag.
"Unsere Kolonnen drehen um und gehen in die entgegengesetzte Richtung in die Feldlager zurück", sagte er in einer von seinem Pressedienst auf Telegram veröffentlichten Sprachnachricht.
Lukaschenko spricht mit Prigoschin
Nach den Angaben des belarussischen Präsidialbüros hatte sich Prigoschin zuvor bereit erklärt, den Vormarsch seiner Kämpfer in Russland zu stoppen. Er sei zu einer Deeskalation der Situation bereit, erklärt das Büro auf seinem offiziellen Kanal beim Kurznachrichtendienst Telegram.
Der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko habe mit dem Einverständnis von seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin mit Prigoschin gesprochen. Es liege eine Vereinbarung über die Sicherheit der Wagner-Kämpfer auf dem Tisch.
Es war zunächst nicht klar, ob Prigoschin Zugeständnisse gemacht oder in Aussicht gestellt wurden, um den Vormarsch auf Moskau zu stoppen.
Analyse der Lage in Russland
ORF- Außenpolitikexperte Peter Fritz analysiert die Lage in Russland und erläutert unter anderem, ob die Gefahr eines Bürgerkriegs in Russland besteht.
Russland-Machtkampf im Liveticker
Hintergründe zu Konflikt zwischen Prigoschin und Moskauer Führung
Der seit Monaten schwelende Machtkampf zwischen Prigoschin und der russischen Armeeführung war in der Nacht zum Samstag eskaliert. Der 62-Jährige beschuldigte Verteidigungsminister Sergej Schoigu, den Befehl zu einem Angriff auf ein Militärlager der Wagner-Truppe gegeben zu haben. Die Einheit hat in Moskaus Angriffskrieg gegen die Ukraine an der Seite regulärer russischer Truppen gekämpft und eine wichtige Rolle bei der Eroberung der Stadt Bachmut im Gebiet Donezk gespielt. Allerdings gab es seit Monaten Streit um Kompetenzen und um Munitionsnachschub.
Putin selbst hatte am Morgen noch seinen Ex-Vertrauten Prigoschin als "Verräter" bezeichnet. Aus dem Kreml gab es zunächst keinen Reaktion zum angekündigten Ende des Aufstands. Die Behörden ermitteln bereits seit Freitagabend gegen den mit Staatsaufträgen reich gewordenen Oligarchen und drohten ihm mit einer Haftstrafe von 12 bis 20 Jahren. Ob die Strafverfahren nach der Ankündigung Prigoschins, seine Truppen zurückzuziehen, eingestellt werden, ist bisher unklar.
Der Machtkampf zwischen dem Söldnerchef und der russischen Führung war in der Nacht zum Samstag eskaliert. Nach dem angeblichen Angriff auf das Wagner-Lager, den das Verteidigungsministerium in Moskau prompt dementierte, kündigte Prigoschin einen "Marsch der Gerechtigkeit" an, um die Verantwortlichen zu bestrafen. Am Samstag besetzten seine Truppen zunächst Militärobjekte in der südrussischen Millionenstadt Rostow am Don. Später wurde bekannt, dass sich weitere Einheiten Richtung Moskau in Marsch gesetzt hatten. Prigoschins Angaben nach befanden sich die Spitzen zuletzt nur noch rund 200 Kilometer von der russischen Hauptstadt entfernt.
Brigadier Feichtinger zur Lage
Brigadier Walter Feichtinger vom österreichischen Bundesheer hat in der "ZIB Spezial" des ORF am Samstagabend den Machtkampf in Russland aus militärischer Sicht analysiert.
Kein Putsch, aber Meuterei
Der britische Militärexperte Lawrence Freedman sieht in dem Marsch der Wagner-Söldnertruppe auf Moskau keinen Putsch oder Aufstand. "Es handelt sich aber sehr wohl eine Meuterei", schreibt der frühere Professor für Militärstudien am King's College in London am Samstag auf seinem Blog.
Das "einzige Ziel" von Wagner-Anführer Jewgeni Prigoschin sei es nämlich, Verteidigungsminister Sergei Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerasimow, der auch russischer Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Ukraine ist, "aus dem Weg zu räumen und die von ihnen im Krieg verfolgten 'Fleischwolf'-Strategien zu ersetzen", so Freedman.
Prigoschin im Porträt
Nun hänge für Prigoschin "alles davon ab, ob seine Anschuldigungen bei den anderen Soldaten Gehör finden und er sie dazu bewegen kann, sich ihm anzuschließen oder sich zumindest zu weigern, gegen seine Männer zu kämpfen", kommentierte der Militärhistoriker und Politikwissenschaftler. "Im Großen und Ganzen hat Wagner mehr Disziplin und Elan an den Tag gelegt als viele andere russische Truppen, und es wäre nicht überraschend, wenn sie in einem Kampf die Oberhand gewinnen würden."
Der Militärexperte erteilt allerdings gleichzeitig Interpretationen der Ereignisse als geplanter Putsch zum Sturz der russischen Staatsführung eine Absage. Das sei offenbar nicht das Ziel des Wagner-Anführers gewesen. Freilich stehe Prigoschin nach der Rede von Russlands Präsident Wladimir Putin vom Samstag, in der dieser - ohne ihn namentlich zu nennen - von "Verrat" und einem "(Dolch-)Stoß in den Rücken" gesprochen hatte, "in direkter Konfrontation mit dem russischen Präsidenten. Einer von ihnen wird der Verlierer sein".
Prigoschin habe im Zuge des Ukraine-Krieges zunehmend an Präsenz und Bekanntheit in der russischen Öffentlichkeit gewonnen und zeige offenbar auch Interesse an einer politischen Karriere. "Das Allerwichtigste ist aber, dass er eine beträchtliche Anzahl von Männern befehligt - bis zu 25.000 sollen es sein, die an seinen aktuellen Manövern beteiligt sind."
Moskau bereitet sich vor
Moskau bereitete sich angesichts des Vormarsches Prigoschins auf etwaige militärische Auseinandersetzungen in der Stadt vor: Mit Verweis auf Antiterrormaßnahmen erklärte der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin den Montag zum "arbeitsfreien Tag". Aufständische Söldner der Wagner-Truppe waren nach Angaben des Regionalgouverneurs am Samstag bis in die russische Region Lipezk rund 400 Kilometer südlich von Moskau vorgedrungen.
Die Entscheidung, den Montag in Moskau zum arbeitsfreien Tag zu erklären sei von ihm im operativen Stab gefällt worden, um Risken zu minimieren, informierte Bürgermeister Sobjanin am späten Samstagnachmittag auf Telegram. "Die Situation ist schwierig", schrieb er.
Ausgenommen von der Entscheidung sind der staatliche Strukturen, kommunale Dienste sowie Firmen im Schichtbetrieb und des militärisch-industrieller Komplexes, die am Montag regulär arbeiten sollen. "Ich ersuche, maximal von Fahrten in der Stadt abzusehen", forderte Sobjanin. Möglich seien Straßensperren in manchen Bezirken sowie auf manchen Straßen.
Am Samstag ergriffen auch die Behörden der südlich von Moskau gelegenen Region Kaluga Sicherheitsmaßnahmen. "Bitte sehen Sie von Reisen mit privaten Fahrzeugen auf diesen Straßen ab, wenn sie nicht absolut notwendig sind", rief Gouverneur Wladislaw Schapscha die Bürger mit Blick auf Verbindungsstraßen in andere russische Regionen und die Ukraine auf. Die Einschränkungen gelten demnach für Gegenden an der Grenze zu den Kaluga-Nachbarregionen Tula, Brijansk, Orlow und Smolensk. Die gleichnamige Hauptstadt Kaluga ist rund 180 Kilometer von Moskau entfernt.
Die Welt schaut nach Russland
Dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zufolge zeigt die Situation in Russland, dass dort niemand die Kontrolle habe. Es herrsche Chaos in Russland, erklärt er. An Russlands Präsidenten Putin gerichtet sagt er: "Je länger Ihre Truppen auf ukrainischem Boden bleiben, desto größer wird die Verwüstung sein, die sie Russland bringen werden."
US-Präsident Joe Biden beriet mit Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und dem britischen Premierminister Rishi Sunak über die Lage in Russland . Die Staats- und Regierungschefs hätten dabei ihre beständige Unterstützung der Ukraine bekräftigt, teilte das US-Präsidialamt am Samstag mit.
Nehammer ruft Krisenkabinett ein
Angesichts der dramatischen Ereignisse in Russland beruft Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) für Sonntag das Krisenkabinett ein. Das berichtete ein Sprecher des Regierungschefs Samstagabend der APA. Bei der Sitzung werden neben Kanzler und Vizekanzler unter anderem Verteidigungsministerin, Außenminister und Innenminister zusammentreffen. Für die kommenden Tage ist eine Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats geplant. Diese hatte davor die SPÖ eingefordert.
Nehammer und seine EU-Amtskollegen zeigten sich wegen des russischen Nukleararsenals besorgt: "Atomwaffen dürfen nicht in die falschen Hände gelangen", sagte Nehammer. Er stehe in Kontakt mit EU-Kollegen, und die westlichen Geheimdienste würden die Lage in Russland laufend analysieren.
(APA/Reuters)