Ukraine: Damm bei Cherson zerstört - Wasser strömt ins Kriegsgebiet

Beide Kriegsparteien warfen einander am Dienstag vor, den von Russland kontrollierten Damm in der Nacht zuvor gesprengt zu haben. Die Zerstörung schürte Sorgen um die Sicherheit von Europas größtem Atomkraftwerk Saporischschja, das mit Wasser aus dem riesigen Stausee versorgt wird.
Eine direkte Gefahr für die ebenfalls von Russland kontrollierte Anlage bestand nach Einschätzung der UNO-Atomaufsicht IAEA jedoch nicht. Welche Auswirkungen der Dammbruch auf die von der Ukraine angekündigte Gegenoffensive sowie auf die Wasserversorgung der bereits 2014 von Russland annektierten Halbinsel Krim haben könnte, war zunächst unklar.
Evakuierungen laufen
Die von Russland eingesetzten Behörden in der besetzten ukrainischen Oblast Cherson teilten am Dienstag mit, die Evakuierung des Gebiets am Fluss Dnipro habe begonnen.
Wasserpegel mehrere Meter gestiegen
Der Staudamm ist der russischen Nachrichtenagentur Tass zufolge auf der Hälfte seiner Länge zerstört. Das Bauwerk stürze aber noch weiter ein, meldete die staatliche Agentur unter Berufung auf Einsatzkräfte. Die Fluten seien unkontrollierbar. Auf Videos in den sozialen Medien war zu sehen, wie Wasser durch die Überreste des Damms strömte. Der Wasserpegel stieg binnen weniger Stunden um mehrere Meter.
Kachowka: "Stadt ist überflutet"
In der Stadt Nowa Kachowka, die direkt am Staudamm liegt, riefen die russischen Besatzer den Notstand aus. Das Wasser sei bereits um zwölf Meter angestiegen, sagte der von Russland eingesetzte Bürgermeister Wladimir Leontjew am Dienstag im russischen Staatsfernsehen. "Die Stadt ist überflutet." Auch das an den Staudamm angrenzende und völlig zerstörte Kraftwerk stehe unter Wasser. Auf der russisch besetzten Seite des Flusses Dnipro sind Leontjews Aussagen zufolge insgesamt 600 Häuser in drei Ortschaften von den schweren Überschwemmungen betroffen.
Bis zu 80 Ortschaften bedroht
Der ukrainischen Regierung zufolge sind bis zu 80 Ortschaften am Dnipro von Überschwemmungen bedroht, laut den russischen Behörden sind es 20.000 Menschen.
Stausee fast so groß wie Vorarlberg
Der 1956 gebaute Damm liegt direkt bei Nowa Kachowka, die Stadt Kachowka befindet sich ein Stück weiter nordöstlich vom Damm entfernt. Das Bauwerk war 30 Meter hoch und über drei Kilometer lang. Er staut den Dnipro (russisch Dnjepr) kurz vor der Mündung ins Schwarze Meer zum riesigen Kachowkaer Stausee, der wegen seiner Größe selbst wie ein Meer wirkt. Der Stausee fasst rund 18 Milliarden Kubikmeter Wasser bei einer Fläche von knapp 2.200 Quadratkilometern. Zum Vergleich: Das Bundesland Vorarlberg hat eine Fläche von 2.600 Quadratkilometern. Vom Damm bis Cherson sind es rund 85 Kilometer flussabwärts, bis zum Standort des AKW Saporischschja in dem Ort Enerhodar etwa 150 Kilometer flussaufwärts. Der See liegt in den Verwaltungsbezirken Dnipropetrowsk, Saporischschja und Cherson.
Ukraine: "Kraftwerk von innen gesprengt"
Die russischen Truppen sprengten nach den Worten des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj das Kachowka-Wasserkraftwerk von innen heraus. In der Nacht um 02.50 Uhr hätten "russische Terroristen" eine interne Sprengung des Wasserkraftwerks vorgenommen, erklärt der Präsident au fdem Kurznachrichtendienst Telegram. "Ungefähr 80 Siedlungen befinden sich im Überschwemmungsgebiet."
Selenskyj sieht in der Zerstörung des Damms die Bestätigung für die Notwendigkeit, die russischen Streitkräfte aus der gesamten Ukraine zu vertreiben. "Russische Terroristen. Die Zerstörung des Staudamms des Wasserkraftwerks Kachowka beweist der ganzen Welt nur, dass sie aus jedem Winkel des ukrainischen Landes vertrieben werden müssen", schrieb Selenskyj auf Telegram. "Kein einziger Meter sollte ihnen bleiben, denn sie nutzen jeden Meter für Terror." Der ukrainische Militärgeheimdienst erklärte, die russischen Truppen hätten den Staudamm in Panik gesprengt. "Das ist ein offensichtlicher Terrorakt und ein Kriegsverbrechen, das vor einem internationalen Tribunal als Beweis dienen wird."
"Heute ist Russland eine globale Bedrohung"
Die Ukraine stufte die Zerstörung des Kachowka-Staudamms als "größte menschengemachte Katastrophe seit Jahrzehnten" ein. Hunderttausende bekämen in den kommenden Jahren die negativen Folgen zu spüren, warnte der Chef des Präsidentenbüros in Kiew, Andrij Jermak, am Dienstag in Kiew. Er bezeichnete Russland als "Terrorstaat", der seinen Angriffskrieg auf eine neue Stufe stelle. "Heute ist Russland eine globale Bedrohung." Das Land müsse seinen Sitz im UNO-Sicherheitsrat verlieren. Russland gehört dort zu den fünf Vetomächten.
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg verurteilte die Zerstörung des Staudamms. Der Vorfall gefährde Tausende Zivilisten und verursache schwere Umweltschäden, schrieb Stoltenberg am Dienstag auf Twitter. "Dies ist eine ungeheuerliche Tat, die einmal mehr die Brutalität von Russlands Krieg in der Ukraine demonstriert."
Auch EU-Ratspräsident Charles Michel zeigte sich angesichts der schweren Explosion an dem Staudamm bestürzt. "Schockiert über den beispiellosen Angriff auf den Nowa-Kachowka-Staudamm", schrieb er am Dienstag auf Twitter. "Die Zerstörung ziviler Infrastruktur gilt eindeutig als Kriegsverbrechen - und wir werden Russland und seine Stellvertreter zur Rechenschaft ziehen." Er werde das Thema beim EU-Gipfel Ende Juni ansprechen und mehr Hilfe für die überfluteten Gebiete vorschlagen, schrieb er weiter. "Meine Gedanken sind bei allen von der Katastrophe betroffenen Familien in der Ukraine."
Scholz: Immer stärker zivile Ziele
Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz warf Russland vor, immer stärker zivile Ziele zu attackieren. "Das ist ja auch etwas, das sich einreiht in viele, viele der Verbrechen, die wir in der Ukraine gesehen haben, die von russischen Soldaten ausgegangen sind", sagte der Kanzler am Dienstag beim "Europaforum" des WDR in Berlin auf eine Frage nach möglichen Konsequenzen aus der Staudamm-Explosion. Die russischen Streitkräfte würden auch Städte, Dörfer, Krankenhäuser, Schulen und Infrastrukturen angreifen. "Deshalb ist das etwas, das eine neue Dimension hat, aber zu der Art und Weise passt, wie Putin diesen Krieg führt."
Ukraine wirft Russland Staatsterrorismus vor
Die Ukraine warf Russland vor dem höchsten Gericht der Vereinten Nationen wegen der Zerstörung des Nowa-Kachowka-Staudamms Staatsterrorismus vor. Der ukrainische Sonderbotschafter Anton Korynevych sprach am Dienstag vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag von einem gezielten Anschlag, der die Sicherheit der Bevölkerung bedrohe und zu schweren Umweltschäden führen könne. "Russlands Taten sind die eines terroristischen Staates."
2017 eingereichte Klage der Ukraine wird heute verhandelt
Vor dem UNO-Gericht in den Niederlanden begann am Dienstag die Verhandlung über eine Klage der Ukraine gegen die russische Aggression seit 2014. Kiew hatte die Klage bereits 2017 eingereicht - also lange vor dem Überfall im Februar vergangenen Jahres. Korynevych warf dem Nachbarland eine systematische Kampagne gegen die Ukraine, deren Bevölkerung und deren Kultur vor. Die Aggression habe 2014 im Donbass und auf der ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel Krim begonnen, die Russland bis heute annektiert.
Mehrere Vorwürfe gegen Moskau
Kiew wirft Moskau militärische und finanzielle Unterstützung der prorussischen Rebellen im Donbass und der Unterdrückung der nicht-russischen Bevölkerung auf der Krim vor. Auch der Abschuss des Passagierflugs MH17 über der Ostukraine im Juli 2014 mit 298 Toten wird Russland zur Last gelegt. Die Boeing der malaysischen Fluggesellschaft Malaysia Airlines wurde beim Überfliegen der Ukraine mit einer russischen Luftabwehrrakete abgeschossen.
Russland gibt Ukraine die Schuld
Russische Nachrichtenagenturen meldeten dagegen, der von russischen Streitkräften kontrollierte Damm sei durch Beschuss zerstört worden. Ein von Russland eingesetzter Vertreter der Besatzungsverwaltung sagte, es handle sich um einen Terroranschlag. So bezeichnet die russische Führung üblicherweise ukrainische Angriffe. Berichte über das Kriegsgeschehen können unabhängig nicht überprüft werden.
AKW unter Kontrolle der russischen Truppen
Mit der Zerstörung des Damms geriet erneut die Sicherheit des Atomkraftwerks Saporischschja in den Fokus. Die Internationale Atomenergiebehörde IAEA erklärte laut der Agentur Tass, ihre Experten beobachteten die Lage. Das AKW steht seit längerem unter Kontrolle der russischen Invasionstruppen, betrieben wird es aber weiterhin von ukrainischem Personal. Ein Berater des ukrainischen Präsidenten Selenskyj warf Russland vor, den Damm zerstört zu haben und damit die Furcht vor einer Atomkatastrophe zu schüren. Die ukrainische Atomenergiebehörde Energoatom zeigte sich denn auch besorgter als die IAEA. Der Dammbruch bedeute eine Gefahr für die Anlage, erklärte Energoatom auf Telegram. Die Lage in dem AKW sei aber gegenwärtig unter Kontrolle. "Wasser aus dem Kachowka-Stausee ist notwendig, damit die Anlage Strom für die Turbinenkondensatoren und Sicherheitssysteme des Kernkraftwerks erhält", so Energoatom.
Bald kein Wasser mehr für die Krim?
Auch zu den Auswirkungen für den Nord-Krim-Kanal gab es unterschiedliche Prognosen. Der Kanal versorgt die Krim mit Wasser. Er wird aus dem Kachowka-Stausee gespeist und verläuft durch den Süden der Oblast Cherson, die der Halbinsel gegenüber liegt. Eine unmittelbare Gefahr der Austrocknung gebe es nicht, berichtete die russische Nachrichtenagentur Tass unter Berufung auf örtliche Behörden. Der Gouverneur der Krim, Sergej Axjonow, erklärte jedoch, der Wasserstand im Kanal könne fallen. Welche Risiken damit einhergingen, werde erst in den kommenden Tagen klar.
Die Ukraine hatte den Kanal nach der Annexion der Krim durch Russland blockiert, was zu einer akuten Wasserknappheit auf der Halbinsel führte. Diese endete, nachdem russische Truppen den Kanal im März 2022 unter ihre Kontrolle brachten.
(APA)