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"Wir alle können Kindern Perspektiven geben"

Dr. Simon Burtscher im W&W-Sonntags-Talk.
Dr. Simon Burtscher im W&W-Sonntags-Talk. ©Sams
Dr. Simon Burtscher leitet die Geschäfte des Vorarlberger Kinderdorfs. WANN & WO sprach mit dem 46-jährigen Hohenemser über magische Weihnachten im Kinderdorf, Zuversicht und was jeder einzelne von uns tun kann, um Kindern Perspektiven zu geben.

WANN & WO: Herr Burtscher, dieses Interview erscheint genau zu Heiligabend. Wie wird Weihnachten im Vorarlberger Kinderdorf gefeiert?

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Simon Burtscher: Im Dorf leben viele Kinder mit sehr schwierigen Lebensgeschichten, die an Weihnachten aus verschiedensten Gründen nicht nach Hause können. Weihnachten hat für sie eine ganz magische Bedeutung. Und das Personal, das an Weihnachten Dienst hat, feiert mit ihnen ein ganz klassisches und traditionelles Weihnachtsfest: Es wird zusammen gesungen und gegessen, natürlich gibt es auch eine gemeinsame Bescherung. In unserer täglichen Arbeit ist es uns sehr wichtig, den Kindern Hoffnung und Zuversicht zu geben – gerade an Weihnachten sind das ganz essenzielle Kraftquellen. Auch mit der Geburt von Jesus ist für viele Hoffnung verbunden: Es ist ein Signal der Verbundenheit von Gott mit uns Menschen.

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WANN & WO: Die Zeiten sind keine einfachen. Mehr Hoffnung und Zuversicht könnten allgemein nicht schaden, nicht wahr?

Simon Burtscher: Das stimmt allerdings. Wenn wir an den Krieg in der Ukraine denken, die Coronapandemie, Inflation etc., dann glaube ich sogar, dass wir diese Dinge in unserer Gesellschaft aktuell mehr denn je benötigen. Denn das sind alles Themen, die die Menschen zutiefst verunsichern. Auch in einer sehr sicheren Wohlstandsgesellschaft wie Vorarlberg.

WANN & WO: Stichwort „verunsichert“: Wie kann man Kindern in Zeiten wie diesen ihre Verunsicherung nehmen?

Simon Burtscher: Ob Kinder verunsichert sind oder nicht, hängt viel davon ab, ob wir selbst verunsichert sind. Wenn wir als Bezugspersonen – Eltern, Nachbarn, LehrerInnen, etc. – Sicherheit und Zuversicht ausstrahlen, überträgt sich das auch auf die Kinder. Als Gesellschaft müssen wir uns die Frage stellen: Sind wir uns unserer Verantwortung bewusst? Denn es ist oft schwierig, wenn Erwachsene das nicht reflektieren. Damit übertragen sie ihre eigene Unsicherheit unreflektiert auf die Kinder. Als professionelle Einrichtung haben wir in diesem Punkt weniger Schwierigkeiten, unsere MitarbeiterInnen wissen, wie wichtig es ist, Sicherheit und Orientierung zu geben. Das ist eine essenzielle Grundbedingung für erfolgreiche Arbeit und das Fundament unseres Tuns. Das schafft man auch in schwierigen Zeiten. Man muss aber keine Therapeutin oder ein Sozialarbeiter sein, um Kindern Orientierung zu geben. Das kann jeder von uns.

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WANN & WO: Wie genau?

Simon Burtscher: Wir haben vergangenes Jahr unser 70-jähriges Bestehen gefeiert und uns dabei intensiv mit unserer eigenen Geschichte beschäftigt. Dabei haben wir festgestellt: Der rote Faden, der sich über die Jahrzehnte durchgezogen hat, ist, den Kindern Perspektiven zu geben. Dazu haben wir die Initiative „Wir Kinder Vorarlbergs“ gestartet. 100 Menschen aus dem Ländle sind bereits als Testimonials dabei und erzählen Lebensgeschichten zu ihrer Kindheit. Wir sagen: Die Perspektiven von Kindern sollten so bunt sein, wie der Blick durch ein Kaleidoskop. Wir wollen aufzeigen: Jeder von uns kann – wenn er will – ein Perspektivengeber für Kinder sein: Der Nachbar, indem er einen schönen Ausflug mit Kindern macht. Mama und Papa, indem sie Role-Models in Bezug aufs Leben sind. Perspektiven geben kann jeder, der Kinder an seinem Alltag teilhaben lässt und ihnen Grundwerte vermittelt und Zugänge zum Leben ermöglicht. Wir müssen als Bezugsperson für Kinder spürbar werden. Das ist das Entscheidende. Für viele Kinder ist das heute leider nicht mehr der Fall. Sie haben zwar viele Erwachsene um sich herum, nehmen aber nicht an deren Alltag teil. Und jenen, die heute nur zuhause sitzen und das Telefon oder den Fernseher als Ersatz für eine erwachsene Bezugsperson haben, werden viele Möglichkeiten im Leben entzogen. Das ist ein ganz entscheidender Punkt, wo wir alle als Gesellschaft noch einen großen Beitrag leisten können.

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Kurz gefragt

  • Sie sind seit 2021 – gemeinsam mit Alexandra Wucher – Geschäftsführer des Vorarlberger Kinderdorfs. Wie teilen Sie sich ihre Aufgaben?Ich war zuvor im Bereich Zuwanderung und Integration tätig und habe mich viel mit Diversität und Chancengerechtigkeit beschäftigt – beides Themen, die im Vorarlberger Kinderdorf hohe Relevanz haben. Ich habe jedoch bislang nie im Kinder- und Jugendhilfekontext gearbeitet, hier bin ich tatsächlich Quereinsteiger. Meine Aufgaben liegen in erster Line auf sozialpolitischen Thematiken sowie der Organisationsentwicklung. Alexandra ist schon länger im VoKi tätig und hat als Psychologin in Fragen der Kinder- und Jugendhilfe weitaus mehr Kompetenz als ich. Sie ist auch für die Personalentwicklung verantwortlich.
  • Wie verbringen Sie heuer persönlich das Weihnachtsfest?Wir sind eine Großfamilie und feiern heuer alle gemeinsam. Das freut mich sehr. Wir essen und singen zusammen, danach gibt eine gemeinsame Bescherung. Zu essen gibt es übrigens einen Klassiker der österreichischen Küche – Tafelspitz, den ich selbst zubereite.
  • Was erhoffen Sie sich für 2023?Ich hoffe, dass wir als Gesellschaft wieder die Kraft der Solidarität entdecken, die Menschen in ihrer alltäglichen Lebenssituation verstehen und sie unterstützen, wo es möglich ist. Zudem wünsche ich mir, dass wir wieder zuversichtlicher werden. Also nicht nur mit Angst in die Zukunft blicken, sondern auch die Chancen sehen, die sich bieten. Es braucht Leute, die mutig voranschreiten und sagen: Ja, es ist gerade nicht leicht, aber wir schaffen es. Wir haben immer noch Möglichkeiten, zu gestalten.
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Zur Person: Mag. Dr. Simon Burtscher-Mathis

  • Alter, Wohnort, Familienstand: 46, Hohenems, verheiratet, zwei Kinder
  • Ausbildung/Beruf/Funktion: Studium der Soziologie in Graz, Waterloo (CA) und Innsbruck, ab 2003 Soziologe bei „okay. zusammen leben – Projektstelle für Zuwanderung und Integration“, seit 2021 Geschäftsführer Vorarlberger Kinderdorf (gemeinsam mit Mag. Alexandra Wucher)
  • Hobbys: Lesen, gutes Essen, kochen
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(WANN & WO)

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