Raketenangriffe auf Kiew: Tränen, Angst und Wut

Lidija Tichowska steht regungslos vor dem Krater, der sich nur unweit ihres Wohnhauses in Kiew auftut. Eine russische Rakete ist eingeschlagen - und hat ihren Sohn in den Tod gerissen. Die 83-Jährige blickt auf ein Autowrack. Sie sucht nach der verkohlten Leiche ihres Sohnes.
Bereits am Montag Raketenangriff auf Kiew durch russische Truppen
"Er liegt in der Nähe des Autos, aber sie lassen mich nicht durch", sagt Tichowska. "Sie sagen, dass er zu stark verbrannt ist, dass ich ihn nicht wiedererkennen werde, aber ich will ihn trotzdem sehen."
Tichowskas Sohn Witali war nur kurz aus der Wohnung gegangen, um in einem Geschäft um die Ecke Lebensmittel zu kaufen. Als er aus dem Laden auf die Straße trat, schlug die Rakete ein. "Jetzt werde ich allein in meiner Wohnung sein", sagt seine Mutter. "Wozu brauche ich diese Wohnung?"
"Ich wünsche Russland den gleichen Kummer, den ich jetzt empfinde"
Tränen laufen der alten Frau über die Wangen. Sie klammert sich an den Ellbogen ihres Enkels. "Ich wünsche Russland den gleichen Kummer, den ich jetzt empfinde", sagte sie und schüttelt leicht den Kopf.
Russischer Vormarsch auf Kiew gewinnt nun wieder Fahrt
Der russische Vormarsch auf Kiew, der zu Beginn des Krieges aufgrund des erbitterten Widerstands der ukrainischen Truppen ins Stocken geriet, gewinnt inzwischen wieder an Fahrt. Die Verteidiger liefern sich heftige Kämpfe mit den vorrückenden russischen Einheiten am nordwestlichen Stadtrand.
Langstreckenraketen in Richtung Kiew
Zudem nimmt Russland die ukrainische Hauptstadt mit Langstreckenraketen unter Beschuss. Am Dienstag wurden dabei nach ukrainischen Angaben auch Wohngebiete getroffen. Insgesamt habe es am Montag und Dienstag mindestens vier Tote und rund ein Dutzend Verletzte gegeben. Eine weitere Front entsteht derzeit in den weitläufigen Industriegebieten im entlegeneren Nordosten Kiews.
Angesichts der wachsenden Bedrohung sind die bewaffneten Freiwilligen, die an den mit Sandsäcken gesicherten Kontrollpunkten in der Hauptstadt die Stellung halten, dazu übergegangen, von vorbeifahrenden Autos ständig wechselnde Codewörter zu verlangen. Die Soldaten wechseln die Farbe der Bänder an Ellbogen und Waden, um besser erkennen zu können, wer auf der ukrainischen Seite steht und wer ein russischer Saboteur sein könnte.
Stimmung in Kiew angespannt
Diese Paranoia, die sich auf den verlassenen Straßen der Stadt ausbreitet, wird begleitet von einer trotzigen Haltung gegenüber den Truppen des russischen Präsidenten Wladimir Putin. "Sie haben meine Katze getötet, jetzt ist Putin erledigt", sagt Oleg Scheremet, während er die Trümmer des ersten Angriffs des Tages ein paar Straßen weiter durchwühlt. "Die Katze war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat."
Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko steht mit geballten Fäusten nur wenige Schritte von der verkohlten Leiche des Sohnes von Lidija Tichowska entfernt. Eine Schar schwer bewaffneter Leibwächter umringt Klitschko, als er in die Kameras der ukrainischen Fernsehreporter blickt.
Klitschko: "Russen wollen Panik säen in unserer Stadt"
"Die Russen wollen Panik säen in unserer Stadt", sagt der frühere Box-Weltmeister. "Aber das wird nicht passieren. Es wird jeden Ukrainer nur dazu motivieren, unsere Stadt noch mehr zu verteidigen." Als aus der Ferne weitere Explosionen zu hören sind, steigt der Bürgermeister wieder in sein Auto und fährt davon.
"Sie wollen nur mehr Terror, um den Menschen mehr Angst zu machen."
Zurück bleiben die Anwohner, die immer noch versuchen zu verstehen, warum Russland ausgerechnet ihren verschlafenen Stadtteil innerhalb weniger Stunden gleich zwei Mal angegriffen hat. Der ukrainische Abgeordnete Oleksij Gontscharenko, der sich am Kampf zur Verteidigung Kiews beteiligt, zeigt offen seine Wut auf Russland - aber auch seine Enttäuschung über den Westen, dem er eine unzureichende Unterstützung der Ukraine vorwirft. "Hier gibt es kein militärischen Ziele", sagt der 41-Jährige. "Sie wollen nur mehr Terror, um den Menschen mehr Angst zu machen."
Und viele Menschen haben Angst. Die Friseurin Vera Retscheschkowa steht mit ihrem Freund einen Block vom Ort des Raketeneinschlags entfernt und schluchzt in ihr Taschentuch. "Wir haben erst neulich in diesem Kiosk Lebensmittel gekauft, und jetzt gibt es die Person, die dort gearbeitet hat, vielleicht nicht mehr", sagte die 26-Jährige unter Tränen. "Es ist einfach schrecklich. Man will niemandem etwas Böses wünschen, aber Putin..."
(APA/Red)