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Kriegsangst in Kiew – "Stellen uns auf das Schlimmste ein"

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Am Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine macht sich in der Hauptstadt Kiew Kriegsangst breit.
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Der Tyrann von Moskau

Im Zentrum bilden sich vor den Bankautomaten lange Schlangen. Die Menschen wollen Geld abheben, sie fürchten, dass bald der Strom ausfallen könnte. Die meisten Geschäfte, Cafés und Restaurants in sonst belebten Stadtteilen haben geschlossen. In den Supermärkten decken sich die Menschen mit Trinkwasser und dem Nötigsten ein.

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Eine junge Frau mit zwei Wasserflaschen und etwas Brot in der Hand sagt nur: "Alles ist sehr schlecht." Aus Kiew fliehen will sie aber nicht.

Lage bleibt unübersichtlich

Am frühen Donnerstagmorgen hat Russlands Präsident Wladimir Putin eine Militäroperation in den ostukrainischen Regionen Luhansk und Donezk angeordnet. Aber auch aus anderen Teilen der Ukraine gibt es Berichte über Angriffe mit Hubschraubern und Raketen auf Militärobjekte. Die Lage bleibt unübersichtlich.

Bereits im Morgengrauen wurden viele der knapp drei Millionen Einwohner der Hauptstadt aus dem Schlaf gerissen. Mehrfach ist entferntes Donnergrollen zu hören. Kiews stellvertretender Bürgermeister sagt im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, die Einschläge habe es nicht in der Stadt selbst gegeben, sondern im Umland - in Browary und Boryspil. Dort liegt der internationale Flughafen der Stadt. Der Bürgermeister von Boryspil sucht die Bevölkerung zu beruhigen. "Sie haben Explosionen gehört. Nur ruhig, das ist unsere Armee, die auf unbekannte Flugapparate reagiert.

Sirenen heulen: Luftalarm

Irgendwann vor acht Uhr morgens heulen in Kiew die Sirenen: Luftalarm. Nur eine Probe, wie sich bald herausstellt. Manche Passanten gehen ruhig weiter, andere rennen zur nächsten Metrostation. Die U-Bahnhöfe sind in Kiew wie in Moskau und anderen ehemals sowjetischen Großstädten auch als Luftschutzbunker gedacht.

In der Metrostation "Soloti Worota" sind die Drehkreuze geöffnet, der Zutritt und die Fahrt mit der Metro sind an diesem Tag umsonst. An einem kleinen Kiosk mit Backwaren macht sich die Verkäuferin vor allem Sorgen um ihre Kinder, die am Stadtrand allein in der Wohnung sind. Alles könnte in einer Woche vorbei sein, hofft die Frau. "Sie nehmen sich das dahinten und dann ist Schluss", sagt sie mit Blick auf die Separatistengebiete im Donbass. Für die Zwischenzeit geht sie jedoch vom Schlimmsten aus: "Es wird keinen Strom geben, wir haben uns darauf eingestellt, bei Kerzen dazusitzen und abzuwarten."

"Niemand weiß, wo sie zuschlagen"

Doch es gibt auch Menschen, die am Alltag festhalten. Pendler fahren zur Arbeit und halten artig vor dem Fußgängerüberweg, ein Jogger läuft seine Runde, Menschen führen ihre Hunde aus.

Ein Pärchen hat gestern noch überlegt, ins westukrainische Lwiw zu fliehen. "Heute ist es aber überall gefährlich. Niemand weiß, wo sie als nächstes zuschlagen", sagt der 40-jährige Mann. Heute sei die Aufgabe, Geld abzuheben und die notwendigsten Lebensmittel einzukaufen. Ob er Angst habe, eingezogen zu werden? "Ja, ich sehe keinen Sinn darin, im Krieg zu sterben, allerdings ist seit heute alles anders."

Lage besonders im Osten angespannt

Doch nicht nur in der Hauptstadt Kiew herrscht Krisenmodus. Noch angespannter ist die Lage im Osten des Landes. "Wir sind heute Morgen um fünf Uhr von Explosionen aufgewacht", berichtet eine 56-jährige Krankenpflegerin in Charkiw am Telefon. Sie lebt am Stadtrand, bis zur russischen Grenze sind es nur 40 Kilometer. In der Nähe befinde sich die Basis der ukrainischen Luftwaffe in Tschuhujiw - vermutlich sei diese beschossen worden. "Ich habe genau begriffen, dass das richtige Explosionen waren", sagt die Frau, die bereits 2014 vor den Kämpfen in der Nähe der Separatistengebiete geflohen war.

"Die Menschen sind sehr erschrocken, wer ein Auto hat, packt seine Sachen, es gibt große Staus auf den Straßen", erzählt die Pflegerin. Auch sie selbt würde gerne fliehen - doch ihre Familie hat kein Auto. Sie habe gehört, dass Züge bereitgestellt würden, um die Bevölkerung aus Charkiw nach Odessa im Süden und in die Westukraine zu bringen. Die Frau überlegt noch. "Dies ist doch mein Heimatboden, mein Heimatland", sagt sie mit tränenerstickter Stimme. "Wohin soll ich denn gehen?"

(APA)

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