Die unheimliche Aktualität des Ersten Weltkriegs

Lustenau. Es gibt keinen europäischen Geschichtskonsens, keine große Erzählung von Europa, unter der die Nationen sich gleichberechtigt versammeln und die eine Grundlage für ein europäisches Staatsvolk schaffen könnte. „Der Erste Weltkrieg der vor 100 Jahren ausbrach und vor 96 Jahren endete, wird – jedenfalls in der Breite – nach wie vor aus nationalen Sichtweisen betrachtet und bewertet. Das mag bedauerlich und veränderungswürdig sein, doch es ist die Ausgangslage. Und wenn auch die langen Schatten von 1914 über Europa liegen, die man im grellen Tageslicht kaum wahrnimmt, so ist doch davor zu warnen, sie als moralische Machtwährung einzusetzen“, wie Kulturreferent Daniel Steinhofer im VN-Heimat-Interview treffend bemerkt.
Wie soll man denn nun der großen menschlichen, militärischen, politischen und gesamteuropäischen Katastrophe angemessen gedenken?
Daniel Steinhofer: Es ist damit zu rechnen, dass im Gedenkjahr 2014 – 100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs – eine Vielzahl an Veranstaltungen, Ausstellungen und Dokumentationen auf uns einwirken wird. Es ist deshalb Ziel des Historischen Archivs der Marktgemeinde Lustenau nicht die einschlägigen Forschungsfelder des Ersten Weltkriegs mit seinen Kriegsschauplätzen zu zeigen, sondern speziell die Auswirkungen auf Lustenau und seine Bürger aufzuarbeiten und in entsprechendem Rahmen auszustellen. Zu diesem Zweck haben wir auch unser Team mit Gemeindearchivar Dr. Wolfgang Scheffknecht und Oliver Heinzle um die zwei Historikerinnen Mag. Nadja Naier und Mag. Vanessa Hämmerle erweitert.
Es sind sehr unterschiedliche Dokumente, die Sie für die Ausstellung zusammentragen. Worin erfährt man denn mehr über den Krieg? In den Briefen, den Tagebüchern, den biografischen Beschreibungen oder der Literatur selbst?
Daniel Steinhofer: Dem historisch interessierten Menschen sind die Kriegsschauplätze, die Kampfstrategien und die rasante Entwicklung neuer Waffen sowie die politischen Gegebenheiten durch einschlägige Fachliteratur und entsprechende Fernseh-Dokumentationen umfassend bekannt. Für unsere Ausstellung beziehen wir parallel dazu Informationen aus Tagebüchern, Briefen und den regionalen Medien sowie aus den sonstigen aufbewahrten Archivalien. Wir sind aber auch dankbar für Gegenstände oder Schriftstücke aus privaten Archiven und bitten die Bevölkerung darum, uns solche Dinge zur Verfügung zu stellen – natürlich garantieren wir die unversehrte Rückstellung.
Wie kann man zu einem einigermaßen fassbaren Stimmungsbild der damaligen Zeit kommen?
Daniel Steinhofer: Es gibt viele Berichte von Zeitzeugen, die die auch in Lustenau vorherrschende Euphorie zu Beginn des Krieges eindrucksvoll darstellen. Davon zeugen etwa Protokolleintragungen bei den Vereinen oder private Aufzeichnungen von Bürgern. So fand etwa nach der Generalmobilmachung ein freudiger Umzug der Vereine durch die Straßen von Lustenau statt. Unmittelbar nach Kriegsausbruch werden die Berichte spärlicher, vor allem Tagebucheintragungen, aber etwa auch die inhaltliche Veränderung von Gemeindeblattinseraten vermitteln dann ein Stimmungsbild.
Ihr Anliegen ist es, nicht die großen Schlachten zu präsentieren, sondern einen Eindruck vom Leiden der Zivilbevölkerung zu vermitteln. Wie wollen Sie das erreichen?
Daniel Steinhofer: Die Ausstellung soll in erster Linie die Schicksale der Lustenauer, die in den Krieg zogen, sowie das Leben im Ort selber beleuchten. Durch das Zusammenführen aller zeitgenössischen Quellen wollen wir ein kompaktes Bild der Zustände in Lustenau zeichnen, aber auch Entwicklungen darstellen, die durch den Ausbruch des Krieges abrupt gestoppt, gebremst oder total verändert wurden. Dafür investieren unsere HistorikerInnen viel Zeit in die Archivforschung.
Die Zäsur, die dem Sommer der Kriegserklärung 1914 folgte, war echt, tief und blutig. Was bedeutete der Erste Weltkrieg in der Kunst auch im ländlichen Raum?
Daniel Steinhofer: Der Erste Weltkrieg beeinflusste viele Künstler fundamental. Neben einigen Künstlern, die den Kriegsbeginn in ihren Werken ebenso euphorisch begrüßten, ahnten andere bereits die Grauen, die auf die Menschen zukamen. Während des Krieges verarbeiteten viele Künstler ihre Eindrücke in Bildern von Opfern und Kriegsschauplätzen. In diesem Zusammenhang ist natürlich auch die Lustenauer Künstlerin Stephanie Hollenstein zu nennen, die zunächst als Stephan Hollenstein selber mit den Vorarlberger Standschützen einrückte und danach als Kriegsmalerin tätig war.
Ungerecht verteilt waren auch die Kriegslasten. Während Arbeiterfamilien hungerten, prassten Kriegsgewinnler in Luxusrestaurants. Lag darin die Ursache für die Revolte 1918?
Daniel Steinhofer: Ja, sicher auch. So kam es etwa zum Arbeiteraufstand im Januar 1918, als die Mehlration um 50 % gekürzt wurde. Grundsätzlich spielen aber viele Entwicklungen vor und während des Krieges eine Rolle (separatistische Tendenzen in vielen Volksgruppen im Habsburgerreich, militärische Niederlagen, politische Entwicklungen in anderen Ländern wie etwa in Russland).
Was waren die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die Marktgemeinde Lustenau?
Daniel Steinhofer: Die unmittelbarste Auswirkung war die hohe Gefallenenanzahl, die gleich zu Beginn des Krieges eintrat, da der größte Teil der Lustenauer Soldaten in den Regimentern der Kaiserjäger eingesetzt wurde. Diese hatten schon bald nach Kriegsbeginn im Kampf gegen russische Truppen schwere Verluste zu verzeichnen. Darüber hinaus waren es Einschränkungen und Engpässe bei der Nahrungsmittelbeschaffung, beim Heizmaterial oder etwa im bilateralen Handel mit der Schweiz. So brach etwa die Stickerei, deren Produkte als absolute Luxusgüter galten, unmittelbar nach Ausbruch des Krieges zusammen, was das Ende einer langen, überaus starken wirtschaftlichen Konjunktur markierte.
Die Julikrise 1914 war „vielleicht das komplexeste Ereignis“ aller Zeiten – Was können wir heute daraus lernen?
Daniel Steinhofer: Die Motive der beteiligten Politiker in der „Julikrise“ sind nach wie vor umstritten und auch die Bewertung der einzelnen Handlungen im Zusammenhang mit der „Kriegsschuldfrage“ ist nicht abgeschlossen. Die Protagonisten von 1914 waren „Schlafwandler, wachsam und blind“, schreibt der australische Historiker Christopher Clark in seinem Buch „The Sleepwalkers“ und meint damit das kollektive Politikversagen dass schlussendlich zu unendlichem Elend führte. Dabei war Europa vor 100 Jahren eine „Insel der Stabilität“, bis wenige Monate später der Erste Weltkrieg ausbrach. Und hier lassen sich zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht einige Parallelen zur Euro-Krise bzw. Staatsschuldenkrise ziehen. Dabei droht heute eher keine kriegerische Auseinandersetzung, aber durchaus etwa lang anhaltende Instabilität, soziale Spannungen und politische Radikalisierungen, wie sie auch damals verstärkt um sich griffen.
Kontakt zu Kulturreferent Daniel Steinhofer:
Kulturreferat der MG Lustenau; Tel: 05577/8181-305