Die Verantwortlichen waren von Anfang an bemüht, deren Anonymität zu wahren und keinerlei Information über ihren Zustand nach außen dringen zu lassen. Strikte Geheimhaltung wurde zu Recht als Grundvoraussetzung für die gesellschaftliche Integration gesehen.
Würden die Betroffenen durch die öffentliche Ausbreitung ihres Leidens ein weiteres Mal zum Opfer gemacht, wäre ein normales Leben nie möglich. Mit anderen Worten: Der beste Opferschutz besteht darin, über die Opfer möglichst wenig zu schreiben und zu spekulieren.
Folgen der Einkerkerung
Dennoch richtet sich bei einem außerordentlichen Verbrechen das Interesse auch auf die außergewöhnliche Situation der Opfer. Jeder fragt sich, was jahrelange Einkerkerung und unzählige Missbrauchshandlungen für Folgen hat und wie ein Mensch das überleben kann.
Man muss sich vor Augen halten, dass das Hauptopfer 24 Jahre in strengster Haft verbracht hat, ohne Tageslicht, ohne Aussicht auf ein Ende und ohne jedes Menschenrecht. Wird in Österreich jemand zu lebenslanger Haft verurteilt, endet diese meist nach 20 Jahren.
Es ist selbstverständlich, dass der Lebenslängliche” jeden Tag Hofgang hat, dass er Besuch empfangen und Kontakt zur Außenwelt unterhalten kann. All diese Menschenrechte sind den Opfern von Amstetten nicht gewährt worden. Wir haben keine diagnostischen Begriffe, um die Qualen zu fassen und die Folgen zu messen.
Es wirkt hilflos, wenn wir das unsägliche Leid in Ausdrücke wie Verzweiflung, Depression oder Wesensänderung pressen wollen und von Entrechtung, Entwürdigung und Entmenschlichung sprechen. Was sagen uns die wissenschaftlichen Untersuchungen an Personen, die Haftsituationen unter Extrembedingungen überlebt haben.
Bedeutsam ist, ob ein Opfer schon jemals in der normalen Welt gelebt hat oder in einem abgeschotteten System aufwachsen musste. Je früher der Freiheitsentzug begonnen und je länger er gedauert hat, desto schwerer werden zwangsläufig die Folgen sein. Diese sind allerdings individuell sehr unterschiedlich, da Widerstandsfähigkeit und Bewältigungsmöglichkeiten von Mensch zu Mensch verschieden sind. Eine erstaunliche und für die Inzestopfer hoffnungsvolle Erkenntnis ist jene, dass die menschliche Adaptionsfähigkeit auch an schlimmste Bedingungen unglaublich hoch sein kann. Man hat in diesem Zusammenhang den Begriff der Unzerbrechlichen” geprägt, das heißt, es gibt Personen, welche selbst schwerste Demütigungen und Foltermaßnahmen relativ gut überstehen.
Es spricht für die Stärke der Opfer von Amstetten, dass sie bislang allen Interview-Angeboten widerstanden haben und sich selbst durch hohe finanzielle Summen nicht verlocken ließen, sich öffentlich zu entblößen. Für Menschen, welche unendliche Qualen erdulden mussten, zählen wohl andere Werte als die finanziellen.
Guter Opa ein Monster
Oft wird vergessen, dass zu den Opfern auch jene zählen, die von Josef F. ein ganz anderes Bild als jenes des Verbrechers gehabt haben. Wie ist es wohl zu verkraften, wenn das respektierte Familienoberhaupt oder der gute Opa, der er auch gewesen ist, nun plötzlich ein Monster sein soll?
Unser aller Voyeurismus muss sich bei Berichten über die Opfer zurückhalten und ihre Interessen über alles andere stellen. Wenn man es als Wissenschafter auch bedauern mag, dass wir aus dem Amstetten-Drama keine Kenntnisse über die Folgen jahrelanger Isolierung und Traumatisierung erhalten, kann man dies als Therapeut nur begrüßen.
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