VN: Sie werden den „VN”-Lesern täglich zum Prozess um Josef F. Informationen liefern. Was darf man sich erwarten?
Haller: Es hat noch nie einen Fall dieses Außmaßes gegeben. Wie ein Mensch sich so ein Verbrechen ausdenken kann – nicht in einem abgeschotteten Berghof, sondern mitten unter uns – das ist unglaublich. Und dass das Verbrechen 24 Jahre andauerte, ist besonders erstaunlich.
Das Drama begann ja im Jahr 1984, als der eiserne Vorhang noch existierte und Ronald Reagan noch US-Präsident war. Das muss man sich erst einmal vorstellen. Ich möchte in die Berichterstattung mein Hintergrundwissen einbringen und glaube auch, dass ich zur Psyche des Josef F. einiges sagen kann.
VN: Wie sehr sind die Augen der Welt auf St. Pölten gerichtet?
Haller: Stark. Und das ist sehr ambivalent zu sehen: Denn als Kriminologe betrachetet man das Verbrechen mit den Augen des Wissenschafters – also mit Interesse. Aber für Österreich ist die Angelgenheit in Imagefragen schwierig. Wir ziehen nun schon zum dritten Mal hintereinander alle Aufmerksamkeit auf uns. Nun haben wir wohl einen ähnlichen Stand wie zuletzt die Belgier mit der zufälligen Häufung an Sexualdelikten. In den USA ist beispielsweise Montana ein Staat, der den Ruf hat, dass dort immer wieder schreckliche Verbrechen passieren. Nun hat das auch Österreich.
VN: Die Familie F. lebt heute integriert – wie eine normale Familie, an einem unbekannten Ort. Wie werden die Opfer den Prozess verfolgen?
Haller: Es ist allen Beteiligten ein Kompliment auszusprechen, dass die Reintegration der Opfer funktioniert hat. Josef F. hatte ja mehrere Gesichter: Einerseits der liebe Opa, andererseits der böse Herr der Unterwelt, der Gefängnis-Tyrann.
Die Kinder, die oben waren, werden Schwiergkeiten haben, ihren Opa als Schwerverbrecher zu sehen. Und jene, denen er die Sonne, den Wind, die Freiheit genommen hat, werden die Haltung haben, dass er büßen muss.
VN: Sie werden am 16. März das erste Mal mit Josef F. in einem Raum sitzen. Worauf werden Sie achten?
Haller: Ich bin sehr gespannt, ob er die Dinge bagatellisiert – oder ob er sich reumütig präsentiert. Ich nehme jedoch an, dass er einen gefassten Eindruck machen wird. F. ist bekannt dafür, dass er immer sehr gefasst auftritt. Die Unbekannte ist sein Alter: Der Mann ist 74, bei alten Menschen ist nie klar, wie sie sich unter Stress verhalten. Deshalb ist beim Prozess ständig ein Arzt anwesend.
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