Für die Salzburger Osterfestspiele hat Peter Sellars Sonntagabend eine – wie er es nennt – “Ritualisierung” der “Matthäuspassion” präsentiert. Zusammen mit den Berliner Philharmonikern, Simon Rattle, einem fantastischen Solistenensemble und vor allem einem umwerfend guten Rundfunkchor Berlin hat Sellars damit für anhaltende Standing Ovations gesorgt. Zur Premiere nach Salzburg gereist war auch Königin Sofia von Spanien, die vor dem Festspielhaus von Galerist Thaddäus Ropac empfangen wurde.
Sellars hat alle Künstler auf der Bühne in schwarze Alltagskleider gestellt, Chor und Orchester asymmetrisch auf der Bühne gruppiert und helle Holzwürfel – Skulpturen ähnlich – zum Sitzen verteilt. Und dann wurde Leidensgeschichte Christi szenisch nacherzählt, durchlitten und durchlebt. Mit genialem Gefühl für die richtige Dosis, ohne Requisiten, ohne Übertreibung und ohne peinliches Pathos. So logisch, naheliegend und plausibel, dass man sich fragt, warum diese Art des Passionsspiels nicht Standard ist auf den Konzertbühnen.
Dreh- und Angelpunkt in diesem berührenden Kammerspiel auf der Breitwandbühne war Evangelist Mark Padmore, dessen sensationell klarer Tenor zum Feinsten gehört, was das Festspielhaus seit langem erlebt haben dürfte. Kein Countertenor, kein Altus, sondern strahlend heller Tenor, mit dem Padmore die schauspielerischen und musikalischen Fäden knüpfte zu Thomas Quasthoff, Magdalena Kozena, Topi Lehtipuu, Christian Gerhaher oder der hochschwangeren Camilla Tilling, allesamt weitere Glanzpunkte dieser Matthäuspassion.
Aber allen solistischen Besonderheiten zum Trotz, es ist der Berliner Rundfunkchor, dem an dieser Stelle der größte Respekt gezollt werden muss. Die Gäste illustrierten Bachs gigantisches, dreistündiges Chorwerk nicht nur mit vollem Risiko und körperlichem Einsatz, sie sangen fast durchwegs auswendig. Groß und wuchtig in den polyphonen Tutti-Stellen, dann wieder innig zart mit Bachs religiöser Lyrik verschmelzend, dabei permanent in Bewegung, aber ohne den Focus auf die Präzision zu verlieren – ein Chor der Superlative.
Simon Rattle hielt den Abend zusammen, vermittelte über die enormen Distanzen der großen Bühne, dirigierte nach allen Richtungen und ließ Gedanken an orchestralen Originalklang erst gar nicht aufkommen. Auch der samtig weiche, eher flächige und konturarme Klang der Berliner Philharmoniker trug seinen Teil bei zu einer insgesamt atemberaubenden und berührenden “Matthäuspassion”. Wer hätte gedacht, dass die so tief in die Schlagzeilen der Wirtschafts- und Chronikseiten geratenen Salzburger Osterfestspiele auch musikalisch ein herausragendes, exemplarisches Musikereignis auf Lager haben, das es schafft, das Publikum von den Stühlen zu reißen?