Er lässt seine Geschichte um eine esoterisch-verstiegene Verlegersgattin in Österreich spielen, weil es doch “wenig helfen würde, die Tatsachen zu verdrehen” und die Geschichte etwa nach Deutschland zu verlegen. Jeder weiß, wie es gemeint ist: nämlich genau umgekehrt. Als “Möchtegernschlüsselroman” (“Der Spiegel”) und “Skandal mit Ansage” (“F.A.Z.”) geistert der neue Roman des Österreichers seit einer Vorab-Lesung Mitte Juni durch die Feuilletons. Nun endlich ist das Buch auch tatsächlich erschienen.
Natürlich handelt es sich um eine Abrechnung. Vordergründig um die des Verlagslektors und Ich-Erzählers Wilfried mit Dagmar, der Gefährtin, Gattin und schließlich Witwe des Wiener Verlegers Heinrich Glück. Nach Ansicht vieler Beobachter jedoch auch um eine des ehemaligen Suhrkamp- und nunmehrigen Hanser-Autors Gstrein mit Ulla Unseld-Berkewicz, der Witwe und Nachfolgerin Siegfried Unselds. Die Namen Suhrkamp und Berkewicz wird man vergeblich suchen, Siegfried Unseld wird auf den letzten beiden Buchseiten dagegen gleich dreimal erwähnt (der Name Gstrein findet sich in Buch übrigens auch – auf Grabstein-Inschriften).
An Dagmar wird kein gutes Haar gelassen, Wilfried zeichnet ein reichlich gehässiges Bild von ihr, das zwischen Diva und Hexe angesiedelt ist. Sie äußert jede Menge Esoterik-Schmus und entwickelt den Drang, sich eine jüdische Vergangenheit zu basteln. Zunehmende Einmischung in Verlagsangelegenheiten wechseln mit Exaltiertheiten, die nicht nur ihre Umgebung, sondern auch ihren Gatten nerven. Dieser, ein trotz seines Namens glückloser Verleger, der sich Dank der anhaltenden Großzügigkeit seiner ersten Frau auch ein wenig profitables Verlagsprogramm leisten kann und anscheinend über beste politische und gesellschaftliche Verbindungen verfügt, bleibt in “Die ganze Wahrheit” dagegen seltsam blass. Das ist außerordentlich schade, denn er hätte wohl die interessantere Hauptfigur abgegeben als die verhuschte Dagmar – nicht nur aufgrund einiger kryptischer Andeutungen zu SS-Vergangenheit und Waldheim-Korrespondenz.
Erzählt Wilfried von den Anfängen des Verlags, dem riskanten Paukenschlag mit einem ausschließlichen Programm an weiblichen Neuentdeckungen und von der Mystikerin und Lyrikerin Anabel Falkner, die der erste Star des Verlags wurde, ehe sie sich umbrachte, hat der Roman Substanz und Spannung, entsteht ein kulturhistorischer Mikrokosmos, von dem man gerne mehr gelesen hätte. Das gehässige Dagmar-Porträt dagegen liest sich zwar deftig (und gibt Insidern gewiss viel Anlass zu Spekulationen), doch stark retardierend. Schon bald geht es nur noch um immer neue Nuancen eines Bildes, dessen grelle Grundfarben schon auf den ersten Seiten feststehen.
Der Eklat zwischen Dagmar und Wilfried kommt erst spät. Die Weigerung des Angestellten, ein Buch Dagmars über das Sterben ihres Mannes zu lektorieren, führt zu seiner Entlassung – und, rückbezügliche Pointe, zu dem vorliegenden Buch. Auch Ulla Unseld-Berkewicz hatte über den Tod ihres Mannes ein Buch geschrieben. “Überlebnis” heißt es – was doch ein wenig ähnlich klingt wie die Wortwahl Dagmars, als sie das erste Mal vom nahen Tod des Gatten spricht: “Die Sterbe hat begonnen”, und: “Er ist ein Sterbling”. Gut möglich, dass in den nächsten Wochen auch von “Überlebnis” (gibt es auch als Taschenbuch) das eine oder andere zusätzliche Exemplar verkauft wird. Mancher wird sich vielleicht ein eigenes Urteil bilden wollen, ob an der “Ganzen Wahrheit” etwas Wahres dran sein könnte…