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Zum Durchschnitt verzogen

Gene und Talente sind das eine, meint Markus Hengstschläger. Aber „ohne üben, üben und noch einmal üben geht gar nichts.“
Gene und Talente sind das eine, meint Markus Hengstschläger. Aber „ohne üben, üben und noch einmal üben geht gar nichts.“ ©Ecowin Verlag
Die Durchschnittsfalle“ lautet der Titel des neuen Buchs von Markus Hengstschläger: Unsere Gesellschaft erziehe nicht zu Außerordentlichkeit, sondern begnüge sich mit Durchschnittlichkeit, lautet die Botschaft.

Schuld daran seien nicht die Lehrer, sondern die gesamte Gesellschaft, also auch Eltern und Politiker. Hengstschläger, Genetiker in Wien und mit 43 Jahren der Superstar unter den österreichischen Wissenschaftlern, fordert ein Umdenken. Bei Schülern beispielsweise dürfe es nicht mehr länger in erster Linie darum gehen, Schwächen ausmerzen. Vor allem Stärken müssten gefördert werden, damit Talente entdeckt und durch harte Arbeit zu Spitzenleistungen entwickelt werden könnten. Übrigens: Zur Elite kann laut Hengstschläger jeder gehören. Man muss nur wollen.

Herr Professor, erzieht unsere Gesellschaft zu Durchschnittlichkeit? Ist das die Erklärung für den Buchtitel „Die Durchschnittsfalle“?

Einerseits wissen wir, dass der Durchschnitt keine Antwort auf die Zukunft bietet bzw. Individualität die einzige Lösung ist. Das wissen wir aus der Evolution. Zweitens ist der Mensch nicht nur auf seine Gene reduzierbar; bei der Umsetzung seiner Talente spielt die Umwelt eine zumindest genauso große Rolle.

Was machen wir denn konkret falsch?

Ein Beispiel: 20 Kinder stehen in einem Turnsaal und erhalten die Aufgabe, einen Ball zu fangen; sie wissen nicht, aus welcher Richtung er kommen wird. Was würde man nun in Österreich tun? Zuerst würde man eine Expertengruppe bilden, dann eine Untergruppe; man würde über Statistiken und Umfragen erkunden wollen: Wo ist der Ball bisher im Durchschnitt hergekommen? Schließlich rät man dann den Kindern, sie sollten sich alle dort aufstellen, wo der Ball bisher durchschnittlich hergekommen ist. Eines ist klar: Stehen dadurch alle auf einem Fleck, ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand den Ball fangen wird, extrem gering. Was wäre also die Lösung? Die Kinder müssten sich im gesamten Turnsaal individuell verteilen. Dann haben wir die größte Wahrscheinlichkeit, dass der Ball gefangen wird.

Die Durchschnittlichkeit zeigt sich auch in der Bildungspolitik.

Absolut. Wenn ein Kind, das nie etwas lernt, vier Nichtgenügend und ein Sehr Gut hat, sagt man: Pass auf, in dem Fach, in dem du den Einser hast, musst du nichts mehr machen. Aber in den Fächern, in denen du die Fünfer hast, musst du ab sofort so viel lernen, dass du zum Durchschnitt aufsteigst. Wenn das Kind das tut, wird es das möglicherweise schaffen. Aber es wird auch in dem Fach, in dem es ein Sehr Gut hat, nur noch zum Durchschnitt gehören; weil es das vernachlässigt. Das Kind wird daraus lernen, dass mit dem Durchschnitt alle zufrieden sind. Der Durchschnitt leistet aber nie etwas Besonderes.

Was wäre die Lösung?

Das Kind sollte in den Fächern mit den vier Nichtgenügend gerade so viel tun, dass es durchkommt. Grundstandards müssen unbedingt erfüllt werden, aber wozu soll es überall Durchschnitt sein? Aber dort, wo es ein Sehr Gut hat, müssen wir uns auf die Suche nach besonderen Leistungsvoraussetzungen machen. Die sind nämlich nur dann wirklich etwas wert, wenn sie durch harte Arbeit in eine besondere Leistung – ist gleich Erfolg – umgesetzt werden. Anders gesagt: Ohne üben, üben, üben geht gar nichts. Aber nicht jeder erreicht durch Üben das Gleiche.

Eine große Leistungsbereitschaft ist also notwendig.

Absolut. Wobei die von innen kommende Motivation zur Leistungsbereitschaft natürlich von der Wahrscheinlichkeit des Erfolgs abhängt. Wenn Sie den ganzen Tag etwas tun müssen, wo Sie schlecht und eigentlich ohne Begabung sind, werden Sie schnell die Motivation verlieren. Es ist also die Aufgabe der Bildungspolitik, ein Milieu zu schaffen, in dem Begabungen entdeckt und gefördert werden.

Wären dazu mehr und bessere Lehrer notwendig?

Die Aussage „lerne dort, wo du vier Nichtgenügend hast“ kommt nicht nur von Lehrern, sondern vor allem von den Eltern, aber auch der Politik. Die Politik sagt heute: Wir müssen bildungsferne Schichten zur Bildung bringen, weil wir den Durchschnitt heben müssen. Bildungsferne Schichten müssten natürlich zur Bildung gebracht werden, kompromisslos. Vor allem aber, weil da unglaublich viele Talente drinnen sind, die es zu entdecken gilt. Wir brauchen also eine Veränderung des Gedankenguts in unserem Land: Ziel muss es sein, zu sagen, „anders ist besser“. Wer einen neuen Weg gehen will, muss den alten verlassen. Es muss wieder „in“, cool und erstrebenswert sein, anders zu sein.

Sprechen Sie sich etwa für eine elitäre Gesellschaft aus?

Nein. Es gibt keine Elite im klassischen Sinn. Jeder ist Elite. Denn jeder kann irgendetwas. Und es gibt daher so viele Eliten, wie es Individuen gibt. Wir starten genetisch völlig individuell. Jetzt gilt es, sich ein Leben lang gegen die Gleichmacherei zu wehren.

Es gibt aber auch Menschen, die gar nicht die Möglichkeit dazu haben, Talente auszunützen.

Ich fürchte, das sind relativ viele. Nehmen Sie noch einmal das Beispiel mit dem Kind, das vier Nichtgenügend und ein Sehr Gut hat: Es wird vielleicht sein Leben lang nicht auf seine Talente stoßen.

Sie selbst waren mit 16 ein Punk, mit 22 Magister, mit 24 Doktor und sehr jung bereits Universitätsprofessor: Wie haben Sie Ihre Talente entdeckt?

Für viele Menschen war ich vielleicht immer „freakig“. Als ich vor 25 Jahren anfing, Genetik zu studieren, war das noch ein freakiges Fach. Heute ist das anders, aber damals wussten die Meisten noch gar nicht, was das ist; und wenn es jemand wusste, dann hatte er Angst davor. Aber jeder hat besondere Talente, jeder ist ein Beispiel. Ich schreibe in meinem Buch, welche Arten von Talenten es gibt und wie man sie fördern kann.

Wie haben Sie die Durchschnittsfalle umgangen?

Die Durchschnittsfalle zu umgehen, ist von innen heraus motiviert. Wer sagt, er schwimmt nicht mit im Strom, hat gute Chancen. Wenn ein Wissenschaftler etwas entdeckt, was man schon kennt, dann hat er nichts geleistet. Von uns wird erwartet, dass wir Grenzen finden und überschreiten. Auf der Uni sage ich zu Studenten: „Pass auf, da hast du ein Talent. Vertiefe dich dort, dann hast du Erfolg.“ Es ist unser tägliches Brot, vom Weg abzugehen; ein Wissenschaftler kann nur dann Erkenntnis schaffen, wenn er etwas Neues ausprobiert.

Und Sarrazins Thesen? Er behauptet, bestimmte Gruppen hätten bestimmte Gene . . .

Es mag sein, dass sich das Bildungsniveau bestimmter Bevölkerungsgruppen unterscheidet; das hat verschiedene Gründe wie etwa „Zugang zur Bildung“. Aber mit Genetik hat das nichts zu tun. Die Streuung innerhalb einer Gruppe ist größer als die Streuung zwischen den Gruppen. Es gibt unter den Türken die Klugen und die weniger Klugen, die Fleißigen und die weniger Fleißigen, genauso wie unter den Deutschen oder den Österreichern.

Sie sind religiös: Anerkennen Sie einen Schöpfer?

Ich bin Naturwissenschafter. Und das bedeutet: Es ist unbestritten, dass der Mensch vom Affen abstammt. Das ist eine der belegtesten Theorien. „Adam und Eva“ ist ein Märchen. Daran gibt es nichts zu rütteln. Aber der Glaube hat seinen Platz: Ich muss in meinem Alltag viele Dinge Teil meines Lebens werden lassen, die ich nicht beweisen kann. Wenn meine Frau sagt, sie liebe mich, kann ich auch nicht antworten: „Wir sind Genetiker, wo hast du denn den naturwissenschaftlichen Beweis dafür? Sonst lasse ich das nicht Teil meines Lebens werden.“ Also: Natürlich kann auch ein Naturwissenschaftler glauben. Aber: Der Glaube soll sich aus naturwissenschaftlichen Fragen heraushalten; das ist nicht sein Gebiet.

Zur Person

Univ.-Prof. Markus Hengstschläger

Vorstand des Instituts für Medizinische Genetik an der Medizinischen Universität Wien

Geboren: 28. April 1968, Linz

Ausbildung: Studium der Genetik an der Universität Wien, Promotion im Alter von 24 als Universitätsassistent am Vienna Biocenter.

Laufbahn: Forschungsaufenthalt an der Yale University (USA), Leitung des genetischen Labors der Frauenklinik Wien. Seit 2003 Universitätsprofessor für Medizinische Genetik an der Medizinischen Universität Wien.

Fachbuchautor (u.a. „Die Macht der Gene“ und „Die Durchschnittsfalle“ im Verlag Ecowin),

Familie: verheiratet, zwei Kinder

Markus Hengstschläger: „Die Durchschnittsfalle. Gene , Talente, Chancen.“ Ecowin-Verlag, 21,90 Euro

Am Mittwoch, den 1. Februar 2012, um 19 Uhr ist Markus Hengstschläger in Bregenz, um in der Buchhandlung Brunner (Rathausstraße 2) sein neues Buch „Die Durchschnittsfalle“ zu präsentieren.

(VN/ Huber)

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