AA

Wiener Pflegekinder: Ausbeutung als Arbeitskräfte, Opfer sexueller Gewalt

Viele Wiener Pflegekinder erlebten ein Martyrium
Viele Wiener Pflegekinder erlebten ein Martyrium ©Bilderbox (Sujet)
Genau eine Woche nach der Präsentation des Berichts über das Schicksal der Kinder im ehemaligen Heim Wilhelminenberg ist am Mittwoch eine weitere Untersuchung über die Jugendwohlfahrt in der Nachkriegszeit veröffentlicht worden. Dieses Mal ging es um Pflegekinder in Wien und ihre Lebenswelt in der Nachkriegszeit.
Betroffene berichten
Wilhelminenberg: Endbericht
Gewalt im Heim bestätigt

Im Auftrag der Stadt hat das Kompetenzzentrum für Soziale Arbeit der Fachhochschule FH Campus Wien das Leben der Pflegekinder in jener Zeit untersucht und aufgearbeitet. Das leider mittlerweile wenig überraschende Ergebnis: Die Kinder wurden oft als Arbeitskräfte ausgebeutet, waren Gewalt und sexuellen Übergriffen ausgesetzt.

 Pflegekinder kamen in Interviews zu Wort

Die Studie trägt den Titel “Lebenswelten der Pflegekinder in der Wiener Nachkriegszeit 1955 – 1970”. Seit Herbst 2012 wurden 15 Interviews mit ehemaligen Pflegekindern – zehn Frauen und fünf Männer – und drei Gespräche mit ehemaligen Fürsorgerinnen geführt. Ziel war, die alltags- und lebensweltlichen Erfahrungen der Betroffenen zu beschreiben und ihnen auch eine Stimme zu geben, hieß es. Keine Vorgabe war, Sachverhalte zu prüfen und Täter auszuforschen.

Betont wurde heute, dass es sich nicht um eine quantitative, sondern um eine qualitative Studie handelt. Studienleiterin Elisabeth Raab-Steiner wies bei der Präsentation auch darauf hin, dass die Situation heute eine andere sei und dass seit dem Untersuchungszeitraum wesentliche Maßnahmen zur Verbesserung des Pflegekinderwesens gesetzt worden seien.

Dort lebten die Pflegefamilien

Die Pflegekinder der Nachkriegszeit lebten teils bei Familien in Wien, teil bei Familien am Land – hier insbesondere im Südburgenland und der Südsteiermark. Wobei die Unterbringung in den Bundesländern ab 1958 stetig zunahm: Von 379 Kindern auf 1.276 Kinder im Jahr 1969, berichtete Raab-Steiner. Grund dafür war, dass es in der Bundeshauptstadt zu wenige Pflegefamilien gab.

Die Pflegefamilien gehörten in der Bundeshauptstadt meist der unteren Mittel- oder der Arbeiterschicht an, im ländlichen Bereich handelte es sich um ärmere Teile der Bauernschaft. Wobei es auf dem Land üblich war, mitunter bis zu zehn Schützlinge aufzunehmen. Nebst dem Einsatz als Arbeitskraft war ein weiteres Motiv für die Betreuung der finanzielle Beitrag, den sie von der Stadt Wien dafür erhielten, wobei: “Es war ein Zubrot, aber ausschließlich vom Pflegegeld konnte man nicht leben”, erklärte die federführende wissenschaftliche Mitarbeiterin der Studie, Gudrun Wolfgruber.

Kinder als Arbeitskräfte missbraucht

Die Kinder dienten oft als Arbeitskräfte im Haushalt bzw. als Ersatz für Mägde und Knechte. “Da mussten wir zeitig schlafen gehen, denn da mussten wir um sechs aufstehen, damit wir vor der Schule noch Essiggurkerl pflücken. Nach der Schule heimgekommen, Essiggurkerl pflücken, dann am Abend noch mal Essiggurkerl pflücken. Aber nicht ein paar, das war ein Acker von 2000 oder 3000 Quadratmeter locker. Das war immens. Dann Holz schleppen, Kuhstall ausmisten, Kukuruz reiben, Kürbis putzen, rote Rüben, Erdäpfel ernten (…) . Einfach alles, es hat nichts gegeben, was wir nicht gemacht haben”, wurde heute etwa ein Betroffener zitiert.

Aufgrund ihrer Tätigkeit kam es oft zur körperlicher Überbeanspruchung bzw. zu Verletzungen. Die Schule war hintangestellt.

Kälte und Härte statt Liebe

Die Pflegekinder waren oft soziale isoliert, hatten kaum bzw. nur eingeschränkten Zugang zu Freizeitgestaltungen. Grundsätzlich war die Beziehung zur Familie von Distanz, Kälte und Härte geprägt: “Hiebe statt Liebe. Ich könnte mich nie erinnern, dass uns die Mutter einmal in den Arm genommen hätte oder getröstet”, heißt es in den Erinnerungen. Die Pflege zielte laut Wolfgruber auf die Mindestbedürfnisse Essen, Schlafen und Hygiene ab, in der Stadt auch auf die Schulbildung.

Gewalt und sexuelle Übergriffe waren häufig

Die Pflegekinder waren auch physischem, psychischem und sexuellem Missbrauch ausgesetzt: “Man kann aus allen Interviews rauslesen, egal ob die Kinder am Land oder in der Stadt untergebracht waren, dass es zu Gewalterfahrungen kam”, berichtete Wolfgruber. Dazu zählten Demütigungen und das Verbot von Sozialkontakten oder auch die häufige Drohung, das Kind “zurück ins Heim” zu schicken.

Die “gesunde Watsche” sei damals ein gängiges Erziehungsmittel gewesen, jedoch gingen die Züchtigungen damals weit darüber hinaus: Sie umfassten auch Schläge und Verletzungen mit Arbeitsgeräten oder Gurten. Die Gewalt übte je nach Familiensituation etwa der alkoholkranke Vater oder auch ältere leibliche Kinder aus.

Auch zu sexuellem Missbrauch kam es – laut den Schilderungen der Betroffenen – oft regelmäßig über Jahre hinweg und mit dem Wissen der Pflegemutter. Die Täter waren nicht nur die Väter, sondern auch die älteren Geschwister, Bekannte oder Verwandte. Männliche Kinder berichteten von Übergriffen durch die Pflegemutter.

Am schlimmsten: Großwerden in Bauern-Großfamilien

Was die Kontrolle betrifft: Die Aufsicht oblag der Kinderübernahmestelle der Stadt Wien und den örtlich zuständigen Fürsorgeämtern. “Den Fürsorgerinnen wurde es auch erschwert, Einblick zu nehmen, indem die Pflegeeltern den Kindern Sprechverbote erteilten und für die Kontrolle den Schein eines heilen Familienlebens erzeugten”, erzählte Raab-Steiner. Den Analysen zufolge sei das Aufwachsen in bäuerlichen Großfamilien am schlimmsten gewesen.

Langjährige Auswirkungen des Martyriums

Ein Großteil der Interviewpartner hat bis heute mit den Folgen der Vergangenheit zu kämpfen. Nach Beendigung des Betreuungsverhältnisses gab es meist keinen Kontakt mehr zur Pflegefamilie. Ein “glückliches Familienleben” hätten die meisten auch als Erwachsene nicht erlebt, was heißt: In einigen Fällen wurden die Erfahrungen von einst wiederholt, etwa dass die eigenen Kinder in Pflege gegeben werden mussten.

Auch Auswirkungen auf das Berufsleben gab es: Die mangelnde Ausbildung führte zu einem Leben mit finanziellen Problemen und drohender Arbeitslosigkeit. Wobei die Männer durch das Absolvieren einer Lehre eine berufliche Selbstständigkeit erlangen konnten. Die Situation der Frauen war, oft durch eine frühe Schwangerschaft bedingt, schwieriger und sie mussten als Hilfsarbeiterinnen ihr Leben meistern.

Pflegekinder-Studie wird bald veröffentlicht

Die Studie zu den Pflegekindern wird derzeit fertiggestellt. Einzelne Interviews, die für die Ergebnisse bereits evaluiert worden seien, müssten noch eingearbeitet werden. Sobald dies geschehen ist, wird die Untersuchung online gestellt.

Damit hat die Stadt ein weiteres Stück der Geschichte der Wiener Jugendwohlfahrt in der Nachkriegszeit aufgearbeitet. Bisher veröffentlicht wurde schon eine Historiker-Kommission über die Zuständen in Kinderheimen, in der festgehalten wird, dass Gewalt in großen Heimen zum Alltag gehörte.

Das geschah am Wilhelminenberg

Vor einer Woche präsentierte die Wilhelminenberg-Kommission ihre Ergebnisse. Denen zufolge waren im ehemaligen Kinderheim Wilhelminenberg Kinder und Jugendliche über Jahrzehnte hinweg physischer und psychischer Gewalt und sexuellem Missbrauch ausgesetzt.

Der bei der Präsentation anwesende Jugendstadtrat Christian Oxonitsch (S) betonte, dass der Bericht über die Pflegekinder wie auch die anderen Kommissionsberichte von einer eigenen Arbeitsgruppe der MA 11 (Jugend und Familie) und städtischer Kontrollinstanzen durchgearbeitet werde: “Wenn hier die entsprechende Abarbeitung erfolgt, dann werden wir sehen, welche Maßnahmen noch notwendig sind.” Eine weitere Kommission, um die Geschichte anderer Wiener Heime aufzuarbeiten, sei “unmittelbar, jetzt vorerst nicht” geplant. Die Archive stünden aber für die Forschung wie auch für die Betroffenen offen.

(apa/red)

  • VIENNA.AT
  • Wien
  • Wiener Pflegekinder: Ausbeutung als Arbeitskräfte, Opfer sexueller Gewalt
  • Kommentare
    Kommentare
    Grund der Meldung
    • Werbung
    • Verstoß gegen Nutzungsbedingungen
    • Persönliche Daten veröffentlicht
    Noch 1000 Zeichen