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Wenn Jugendliche leiden um dazuzugehören

Verprügeln oder geschlagen werden, Regenwürmer essen, Geld stehlen - Initiationsriten wie bei dem am Dienstag bekanntgewordenen Vorfall mit "Baucherln" in einem Bundesschülerheim in Eisenstadt, gibt es viele.

Dies waren sich die Psychologinnen Helga Kernstock-Redl aus Wien und Luise Hollerer aus Graz im APA-Gespräch einig. Letztere sah speziell im Heimleben eine herausfordernde Situation für Kinder der heutigen Zeit.

“Jede Gruppe hat ihre Aufnahmerituale – beim Erwachsenen ist es z. B. der Mitgliedsbeitrag”, meinte Kernstock-Redl. Gefährlich würden diese, wenn sie etwa Kriminalität und Gewalt beinhalten. In Fällen wie im Burgenland drehe es sich um die Aufnahme durch die Erfüllung von Mutproben oder durch das Erdulden von Schmerz. “Es geht auch um die Etablierung eines Gruppengeheimnisses, das verbindet”, so Kernstock-Redl. “Damit grenzt man sich von anderen ab und macht einen Schritt in eine Gruppe.”

Beim Erdulden von Schmerzen gehe es um die Akzeptanz der Macht nach dem Motto “Die Großen dürfen die Kleinen schlagen”: “eine hierarchische Gliederung mit der unausgesprochenen Aussicht, das darfst du auch einmal machen, wenn du groß bist”, so Kernstock-Redl. Dadurch entstehe “ein Scheinrecht, das oft als selbstverständlich hingenommen wird”. Leidensfähigkeit werde als Tugend dargestellt mit Aussicht auf “Belohnung”; Leiden würde den Stolz noch steigern, einer Gruppe anzugehören. Angst und Gruppendruck würden dazu beitragen, das Geheimnis zu bewahren, außerdem schweigen Gewaltopfer meist aus Schamgefühl.

Beim aktuellen Fall käme dazu, dass die Betroffenen in einem Heim leben, meinte Hollerer. “Sie sind aus dem Kontrollradius der Kindheit heraußen.” Die Kinder würden nicht mehr abends in das Elternhaus zurückkehren und seien zu Schulbeginn neu zusammengewürfelt worden. Erstklassler und die Gruppe der Heimkinder, die sich schon kennen und ein solches Ritual vermutlich bereits selbst durchgemacht haben, stünden sich hier gegenüber.

Es gehe auch um ein “soziales Revierverhalten”: Die “Neuen” als mögliche Gefahr, dass man als Platzhirsch verdrängt wird, müssten in die Schranken gewiesen werden, so Hollerer. “Dabei ist die Gefahr der Grenzüberschreitung größer, desto unsicherer man selbst (der Täter, Anm.) in seiner Rolle ist.”

Die Pädagogische Psychologin ortete speziell im Heimleben eine Herausforderung: Kinder und Jugendliche hätten heutzutage zwar viel Erfahrung mit Dingen wie Chatten und Nachmittagsbetreuung – in einem Heim müssten sie aber plötzlich rund um die Uhr persönlich “kontakten” und hätten in Mehrbett-Zimmern zusätzlich sehr wenig Privatsphäre. Hier wäre es wichtig, nicht nur Raum zur Verfügung zu stellen, sondern auch die entsprechende sozial-pädagogische Begleitung, sagte Hollerer.

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