Weltweites Entsetzen nach Rafah-Angriff - Israel hält an Kriegsziel fest

Diplomaten aus dem mächtigsten Gremium der Vereinten Nationen berichteten, das Treffen sei für diesen Dienstag 21.30 Uhr MESZ angesetzt. Ein Sprecher des US-Außenministeriums bezeichnete die Bilder aus dem Zeltlager für Vertriebene im südlichen Gazastreifen als "herzzerreißend". Man arbeite mit der israelischen Armee und Partnern vor Ort zusammen, um die Umstände des Luftangriffs zu klären. Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu sprach im Parlament von einem "tragischen" Vorfall, aus dem man lernen werde. Zugleich betonte er nach Angaben seines Büros vom Montagabend jedoch: "Ich werde nicht nachgeben oder kapitulieren. Ich werde den Krieg nicht beenden, bevor wir alle unsere Ziele erreicht haben."
USA betonen Israels Recht, gegen die Hamas vorzugehen
Das israelische Militär hatte bei der Attacke auf ein Lager für Vertriebene am Sonntagabend nach Angaben der palästinensischen Gesundheitsbehörde mindestens 45 Menschen getötet und Dutzende weitere verletzt. Bei den meisten Toten handelt es sich demnach um Frauen und Minderjährige. UN-Generalsekretär António Guterres verurteilte Israels Vorgehen und forderte: "Dieser Horror muss aufhören."
Ein Sprecher des US-Außenministeriums betonte auf Nachfrage der Deutschen Presse-Agentur, Israel habe das Recht, gegen die Islamisten der Hamas vorzugehen. Den vorliegenden Informationen zufolge seien bei dem Angriff zwei ranghohe Terroristen getötet worden. "Aber wie wir bereits deutlich gemacht haben, muss Israel alle möglichen Vorkehrungen treffen, um die Zivilbevölkerung zu schützen", sagte er. Und in diesem Fall seien Dutzende unschuldige Palästinenser getötet worden.
Verheerendes Feuer wohl durch Granatsplitter
Israelische Beamte hätten der verbündeten US-Regierung erklärt, sie glaubten, dass nach dem Luftangriff ein 100 Meter entfernter Treibstofftank möglicherweise durch Granatsplitter Feuer gefangen habe, zitierte der Sender "ABC News" am Montag einen US-Beamten. Dadurch habe ein Zelt Feuer gefangen, was wiederum zu dem verheerenden Brand in dem Lager geführt habe. Den USA lägen jedoch keine eindeutigen Informationen hierzu vor.
In sozialen Medien kursierten nach dem Luftangriff verstörende Videos, die zeigen, wie verkohlte Leichen aus brennenden Zelten geborgen werden. Israels Armee hatte mitgeteilt, Vorkehrungen getroffen zu haben, um das Risiko für Zivilisten zu verringern. So sei bei dem Angriff präzise Munition eingesetzt und das Gebiet aus der Luft überwacht worden.
US-Regierung will Angriff noch nicht bewerten
Unterdessen sagten zwei US-Beamte dem Nachrichtenportal "Axios", die Regierung von US-Präsident Joe Biden prüfe noch, ob der tödliche Luftangriff eine Verletzung der von Biden proklamierten "roten Linie" darstelle. Biden hatte Israel unlängst gedroht, die Lieferung einiger US-Waffen auszusetzen, sollte Israels Armee in dicht besiedelte Stadtzentren in Rafah eindringen. Die US-Regierung lehnt eine große israelische Bodenoffensive in der an Ägypten grenzenden Stadt ab, hatte zuletzt jedoch erklärt, die Einsätze dort hätten bislang nicht das Ausmaß erreicht, vor dem sie gewarnt habe. Die Frage, ob das Außenministerium die Situation nach dem jüngsten Luftangriff weiterhin so bewerte, beantwortete der Sprecher am Montag nicht.
Deutschland geht von Fehler aus
Die deutsche Bundesregierung geht davon aus, dass es im Zusammenhang mit dem Angriff einen Fehler der israelischen Seite gegeben habe. Derzeit liefen in Israel Untersuchungen, ob es sich um einen gezielten Angriff gehandelt habe, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Montag in Berlin. "Auf alle Fälle ist ein Fehler passiert, das kann man jetzt schon sagen", fügte er hinzu. "Der Schluss, ob das ein Kriegsverbrechen ist im Sinne des Völkerrechtes, das ist etwas, was man Juristen überlassen muss, die die genauen Sachverhalte kennen." Die Maxime laute: "Erst mal untersuchen, was genau passiert ist und dann urteilen. Und nicht anhand von Bildern sofort ein Urteil fällen."
Dämpfer für Bemühungen um Waffenruhe
Wegen des Angriffs in Rafah setzte die Hamas ihre Teilnahme an den Verhandlungen über eine Waffenruhe vorerst aus. Dies teilten Hamas-Repräsentanten der Deutschen Presse-Agentur am Montag mit. Die indirekten Verhandlungen zwischen Israel und der Islamistenorganisation, bei denen Ägypten, Katar und die USA als Vermittler agieren, waren zuletzt nach mehrtägigen Gesprächen in Kairo und Doha in eine Sackgasse geraten. Medienberichten zufolge sollten sie in dieser Woche "auf der Basis neuer Vorschläge" wiederaufgenommen werden. Israel warte auf weitere Informationen von den Vermittlern über die neuesten Positionen der Hamas, bevor es eine Entscheidung über die Entsendung eines eigenen Verhandlungsteams treffe, sagte ein israelischer Beamter der "Times of Israel" laut deren Bericht vom Montagabend.
EU will Israel zu formellen Treffen auffordern
Die EU will unterdessen mit Israel im Rahmen eines formellen Treffens über die Situation im Gazastreifen sprechen. "Wir haben die notwendige Einstimmigkeit erzielt, um einen Assoziationsrat mit Israel zu fordern", sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Montag in Brüssel nach einem Treffen der Außenministerinnen und -Minister der Mitgliedstaaten. Es solle um die Achtung der Menschenrechte gehen und darum, wie Israel die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) umsetzen wolle, sagte Borell. Seit der Verkündung der Entscheidung sei nicht die Einstellung der militärischen Aktivitäten zu beobachten, sondern "im Gegenteil: eine Zunahme der militärischen Aktivitäten, eine Zunahme der Bombardierungen und eine Zunahme der Opfer unter der Zivilbevölkerung".
Der IGH hatte Israel am Freitag dazu verpflichtet, den Einsatz in Rafah unverzüglich zu beenden. Es dürften keine Lebensbedingungen geschaffen werden, "die zur vollständigen oder teilweisen Vernichtung der palästinensischen Bevölkerung in Gaza führen könnten", hieß es im Richterspruch. Das Weltgericht ordnete aber keine Waffenruhe für Gaza an. Seine Entscheidungen sind bindend. Allerdings haben die UN-Richter keine Mittel, um einen Staat zur Umsetzung zu zwingen.
Was am Dienstag wichtig wird
Spanien, Irland und Norwegen haben am Dienstag offiziell einen eigenständigen palästinensischen Staat anerkannt. In Madrid verabschiedete das Kabinett "einen wichtigen Beschluss zur Anerkennung eines palästinensischen Staates", wie Regierungssprecherin Pilar Alegria mitteilte. Norwegens Außenminister Espen Barth Eide sprach von einem "besonderen Tag", Irlands Premierminister Simon Harris von einem "wichtigen Moment". Er nannte die Anerkennung ein Signal dafür, dass es "praktische Maßnahmen" gebe, die ein Land ergreifen könne, "um die Hoffnung (…) auf eine Zwei-Staaten-Lösung lebendig zu halten".
Die beiden EU-Mitgliedsländer und Norwegen brachen damit mit der langjährigen Haltung westlicher Länder, einen palästinensischen Staat nur als Teil einer Friedensvereinbarung mit Israel anzuerkennen. Deutschland vertritt nach wie vor diesen Ansatz.
145 der 193 UN-Staaten erkennen Palästinenserstaat an
Mit diesem Schritt erkennen nun 145 der 193 UN-Staaten einen Palästinenserstaat an. Er erfolgt mitten im Krieg zwischen Israel und der radikalislamischen Hamas im Gazastreifen. Israel hatte die Ankündigung als "Belohnung für Terrorismus" verurteilt. Israels Regierungschef Netanjahu wie auch die Terrororganisation Hamas, die Israels Existenzrecht verneint, lehnen eine Zweistaatenlösung weiter ab.
Ob die Sitzung des Weltsicherheitsrats öffentlich oder hinter verschlossenen Türen abgehalten wird, ist noch unklar. Letzteres schien einer Diplomatin zufolge wahrscheinlicher.
Internationale Pressestimmen
Die italienische Zeitung "La Repubblica" schreibt am Dienstag zum verheerenden Luftangriff Israels in Rafah im südlichen Gazastreifen:
"45 palästinensische Zivilisten wurden getötet, um zwei Kommandeure der Hamas-Miliz auszuschalten. Eine unverhältnismäßige und inakzeptable Zahl an unschuldigen Opfern, zu der die israelische Militärstaatsanwaltschaft nun ermittelt (...).
Die offizielle Version der Streitkräfte, die veröffentlicht wurde, als klar wurde, dass der Angriff der Luftwaffe in Rafah ein Massaker verursacht hat, ist diese hier: "Der Angriff war gezielt, wir haben Maßnahmen ergriffen, um das Risiko, Zivilisten zu treffen, zu minimieren (...)." Außerdem, ließ der IDF-Sprecher weiter wissen, habe die Operation "nicht in der humanitären Zone von Al-Mawasi stattgefunden, wo sich die Bevölkerung hinbegeben sollte (...)."
Es braucht jedoch keine Militärpolizei, um zu verstehen, dass der nächtliche Abschuss von Raketen auf einen der überfülltesten und verzweifeltsten Orte des Gazastreifens keine Methode ist, um das Risiko, Unschuldige zu treffen, zu minimieren."
Zum verheerenden Angriff Israels auf ein Zeltlager mit geflüchteten Zivilisten im Gazastreifen schreibt die spanische Zeitung "El Mundo" am Dienstag:
"Rafah im südlichen Gazastreifen steht im Mittelpunkt der internationalen Aufmerksamkeit, weil es für Israel und die Hamas von großer strategischer, militärischer und rhetorischer Bedeutung ist. Der internationale Blick ist nach dem Tod Dutzender palästinensischer Zivilisten, die nach einem israelischen Luftangriff von einem Feuerball eingeschlossen wurden, noch tiefer, trauriger und besorgter geworden. Was nach israelischen Angaben ein gezielter Angriff auf zwei Hamas-Führer sein sollte, entwickelte sich Sonntagnacht zu einem großen Brandanschlag, der für mindestens 45 Menschen zu einer tödlichen Falle wurde. (...)
Die Bilder der verkohlten Leichen von Zivilisten, die bei dem Brand im Vertriebenenlager ums Leben kamen, lösten allgemeine Empörung und Verurteilung aus. (...) Solche dramatischen Ereignisse liefern auch in Washington denjenigen Argumente, die fordern, dass (dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin) Netanjahu ein Ende des Krieges mit oder ohne Abkommen mit der (islamistischen) Hamas aufgezwungen werden müsse."
"De Tijd" (Brüssel) schreibt am Dienstag:
"Nach dem grauenhaften Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023, bei dem mindestens 1.200 Menschen getötet und über 200 entführt wurden, konnte Israel auf Sympathie zählen. Doch mit seinem rücksichtslosen Vergeltungskrieg hat es den Kredit schnell verspielt. (...) Doch es ist klar, dass es keinen einfachen Ausweg aus dem Konflikt gibt.
Am Sonntag zeigte die Hamas wieder einmal ihre Zähne und feuerte eine Reihe von Raketen auf Tel Aviv ab. Es war das erste Mal seit Monaten, dass die israelische Stadt unter Beschuss geriet. Der Angriff verdeutlichte, dass Ministerpräsident Netanyahu sich mit dem Versprechen, ein für alle Mal mit der Hamas fertig zu werden, eine unmögliche Aufgabe gestellt hat.
Es ist rätselhaft, was die Hamas dazu bewogen hat, am 7. Oktober einen so unverzeihlichen Anschlag in Israel zu verüben. Aber der Ball liegt nun im Lager von Netanyahu, der offenbar nicht weiß, wie er aus diesem Konflikt herauskommen soll. Der alttestamentarische Grundsatz "Auge um Auge, Zahn um Zahn" droht noch jahrelang zu Blutvergießen zu führen. Es ist höchste Zeit, dass die internationale Gemeinschaft den Druck auf alle Parteien erhöht, nicht mit Worten, sondern mit Taten."
(dpa/APA)