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Vier Buchstaben und ein Leck: Ist TTIP noch zu retten?

Greenpeace bringt Licht in TTIP-Verhandlungen.
Greenpeace bringt Licht in TTIP-Verhandlungen. ©APA/AFP
Greenpeace hat eine neue Runde im TTIP-Streit eingeläutet: Die Umweltschutzorganisation hat geheime Dokumente ins Netz gestellt und wirft den USA vor, mit dem geplanten Handelsabkommen europäische Umwelt- und Verbraucherschutz-Standards aushöhlen zu wollen. Kritiker des seit langem umstrittenen Handeslabkommens sehen sich bestätigt, dass letztlich die US-Wirtschaftslobby die Strippen zieht. Die Spitze der EU-Kommission zweifelt, dass das Freihandelsabkommen noch gelingen kann. Steht die geplante riesige Freihandelszone vor dem Scheitern?

Vor zehn Tagen versuchte der mächtigste Mann der Welt, die “German Angst” vor TTIP etwas zu lindern. “Man muss die Tatsachen ansehen und nicht die hypothetischen Möglichkeiten”, lautete Barack Obamas Botschaft bei seinem Besuch auf der Hannover Messe. Nach den von Greenpeace am Montag enthüllten TTIP-Geheimdokumenten bekommt der Satz eine ganz neue Dimension.

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Was ist TTIP?

Die Abkürzung TTIP steht für “Transatlantic Trade and Investment Partnership”, auf Deutsch: Transatlantisches Handels- und Investitionsabkommen. Ziel ist es, Zölle, verschiedene Vorschriften oder Hürden für Investitionen abzubauen, damit der Handel zwischen den beiden Wirtschafts-Supermächten EU und USA mit 800 Millionen Verbrauchern stärker floriert. Bereits fertig ausgehandelt ist das EU-Kanada-Abkommen Ceta, das als Blaupause für TTIP gilt.

Factbox Ziele und strittige Punkte von TTIP, Handelsstršme EU-USA - Tortengrafik GRAFIK 0517-16, 88 x 194 mm
Factbox Ziele und strittige Punkte von TTIP, Handelsstršme EU-USA - Tortengrafik GRAFIK 0517-16, 88 x 194 mm ©Factbox Ziele und strittige Punkte von TTIP, Handelsstršme EU-USA - Tortengrafik GRAFIK 0517-16, 88 x 194 mm

Sind die “TTIP Leaks” eine Sensation?

Mit der Veröffentlichung von 240 Seiten vertraulicher Verhandlungspapiere, die den Umweltschützern von Greenpeace von einem Informanten zugespielt wurden, ist zumindest ansatzweise Schluss mit der Geheimniskrämerei. Erstmals kann jeder Bürger selbst nachlesen, was die USA konkret von den Europäern verlangen. Greenpeace baute am Montag einen gläsernen Container vor dem Brandenburger Tor auf, wo jedermann einen Blick auf die Papiere werfen konnte. Allein das ist schon ein echter Fortschritt.

Was steht in den Unterlagen selbst?

Es ist ein riesiger Berg an Textvorschlägen, der offenlegt, was Amerikaner und Europäer jeweils an Maximalforderungen durchsetzen wollen. Es wimmelt von eckigen Klammern – das heißt, es gibt noch keine Einigung. Inhaltlich sind die “Enthüllungen” für Fachleute keine wirkliche Überraschung. Bekannt ist, dass US-Bundesstaaten europäische Firmen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge möglichst draußenhalten wollen. Auch stinkt es den Amerikanern, dass die Europäer zum Schutz der Verbraucher bereits vorsorglich bestimmte Produkte und Chemikalien verbieten – in den USA passiert das erst, wenn es wissenschaftliche Nachweise für eine Schädlichkeit gibt.

Die Webseite mit den TTIP-Leaks finden Sie hier

Wie reagieren Brüssel, Berlin und Wien?

Brüssel und Berlin wiesen die Vorwürfe zurück, die US-Regierung sprach von irreführenden Interpretationen. Die deutsche Regierung wollte das umstrittene Handelsabkommen nicht infrage stellen. Deutschland und die USA wollen bis zum Jahresende zumindest TTIP-Eckpunkte festlegen, bevor Barack Obamas Amtszeit als US-Präsident endet.

EU-Kommission: Schutzniveau für Verbraucher sinkt nicht

EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström erklärte, das Schutzniveau für Verbraucher, Lebensmittel oder die Umwelt in Europa werde nicht sinken. Ihre rechte Hand, TTIP-Unterhändler Ignacio Garcia Bercero, befürchtet negative Folgen der Veröffentlichung für die Verhandlungen. Obamas Handelsbeauftragter Michael Froman mahnte zur Sachlichkeit.

Faymann sieht sich in Skepsis bestätigt

In Österreich wandten sich Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) und Wirtschaftsminister und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP) am Montag gegen eine Aufweichung hoher Standards. “Meine große Skepsis gegenüber TTIP wurde durch die jüngst veröffentlichten Berichte bestätigt”, erklärte Faymann in einer Aussendung. Diesem Handelsabkommen könne derzeit sicher nicht zugestimmt werden. “Eine Aufweichung unserer Standards kommt nicht infrage”, unterstrich auch Mitterlehner. Es gebe rote Linien, die nicht überschritten werden dürften.

Umweltschutzorganisationen traten für einen Abbruch der Verhandlungen ein. Die Industriellenvereinigung plädierte hingegen für mehr Gelassenheit in der Diskussion um TTIP.

Wie reagieren die USA auf die TTIP-Leaks?

Demonstrativ gelassen. Der Sprecher des Weißen Hauses sagte, man sei darüber “nicht beunruhigt”. Ein “materieller Einfluss” auf das Abkommen sei nicht zu erwarten. In Washington wurde darauf verwiesen, es handle sich lediglich um einen Verhandlungsstand und nicht um Ergebnisse. Auch liege es in der Natur von Verhandlungen, verschiedene Positionen zu haben und sich im Laufe der Zeit anzunähern.

Landen Hormonfleisch und Genfood bald in unseren Supermärkten?

Die EU schließt das aus – egal, wie groß der Druck aus Washington ist. Es wird kein Hormonfleisch geben, erklärt dementsprechend auch das Wirtschaftsministerium in Berlin. Dieselben Stimmen waren aus Österreich zu hören. Auch werde an den strengen EU-Regeln zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel nicht gerüttelt. Greenpeace räumt ein, dass in den gesamten Unterlagen das Wort Gentechnik kein einziges Mal auftaucht. Seit langem umstritten ist der Schutz regionaler Spezialitäten. Das EU-Recht schmeckt den Amerikanern gar nicht. Bei ihnen darf ein Schaumwein aus Kalifornien als “Kalifornischer Champagner” vertrieben werden. In der EU ist das nur für Schaumweine erlaubt, die aus dem französischen Weinanbaugebiet Champagne kommen.

Bekommen Konzerne bei TTIP Sonderrechte?

Bestimmte Regeln, dass sich ausländische Unternehmen gegen staatliche Willkür wie Enteignungen wehren können, gibt es seit Jahrzehnten in Handelsabkommen. Auf deutschen Druck will Brüssel bei TTIP durchsetzen, dass private Schiedsgerichte durch ein internationales Handelsgericht mit Berufsrichtern und einer Berufungsinstanz ersetzt werden. Washington hält davon bislang nichts.

Wie fallen die Reaktionen auf die TTIP-Papiere aus?

Umwelt- und Verbraucherschützer sehen ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. “Die “TTIP-Leaks” zeigen eindeutig, dass es in den Verhandlungen darum geht, auf Kosten hoher Verbraucherschutzstandards die Interessen der Agrar- und der Chemieindustrie durchzusetzen”, meint BUND-Chef Hubert Weiger. Die Wirtschaft hält dagegen. “Mit der Veröffentlichung von Verhandlungszwischenständen werden bewusst Ängste geschürt, um das gesamte Vorhaben zu diskreditieren”, kritisiert der Chef des Autolobbyverbands VDA, Matthias Wissmann.

Abschluss bis Jahresende – kann das jetzt noch gelingen?

US-Präsident Barack Obama und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel wollen TTIP bis zum Jahresende fertig haben. Die Zweifel sind jedoch groß, ob der Mega-Vertrag zumindest in Eckpunkten steht, bevor Obama Anfang 2017 das Weiße Haus verlässt. Am Freitag ging in New York die 13. Verhandlungsrunde zu Ende. Es gab kaum Bewegung, wesentliche Knackpunkte wurden vertagt. “Die Amerikaner verhandeln beinhart”, sagt ein Beamter, der mit am Tisch sitzt. Auch die Europäer haben nichts zu verschenken. Unklar ist, ob es bei der für Juli in Brüssel angesetzten 14. Runde schon zum Finale kommt, wo in wichtigen Bereichen endgültige Kompromisse festgezurrt werden.

Warum hegt die EU-Kommission Zweifel?

In der Spitze der EU-Kommission gibt es einem Zeitungsbericht zufolge starke Zweifel, ob das Freihandelsabkommen TTIP mit den USA überhaupt noch geschlossen werden kann. Die US-Regierung bewege sich bisher zu wenig, damit dieses Jahr ein Abschluss gelingen könne, sagte ein hochrangiger Vertreter der “Süddeutschen Zeitung” laut Vorausbericht (Dienstag-Ausgabe).

Nach der Pause, die durch die Wahlen in den USA, Frankreich und Deutschland bis Ende 2017 entstehe, werde eine Wiederbelebung der Verhandlungen schwierig. Die Kommission fürchtet dem Bericht zufolge außerdem die Reaktion der US-Regierung auf die Enthüllungen. Die US-Seite bestand stets auf strikter Geheimhaltung. (red/dpa/APA)

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