AA

Verfassung für Afghanistan

Die Einigung auf eine demokratische Verfassung für Afghanistan ist ein Höhepunkt des Prozesses, der im Dezember 2001 auf dem Petersberg bei Bonn begonnen hatte.

Die damals praktizierte Strategie erwies sich ein weiteres Mal als erfolgreich: Allen Meinungsverschiedenheiten und unterschiedlichen Interessen zum Trotz wird so lange verhandelt, bis sich Parteien und Volksgruppen auf eine gemeinsame Linie geeinigt haben. Und wenn dann doch unüberbrückbare Gegensätze auftauchen, sorgen die internationalen Diplomaten im Hintergrund für den erforderlichen Handlungsdruck.

„Das ist ein großartiger Erfolg für das afghanische Volk”, jubelte am Sonntag nach vollbrachter Arbeit der UNO-Sonderbeauftragte Lakhdar Brahimi – mit ganz ähnlichen Worten wie vor zwei Jahren auf dem Petersberg. Diesmal musste der algerische Ex-Außenminister mit seiner ebenso zurückhaltenden wie eindringlichen Art nachhelfen, um einen erbitterten Konflikt in der Großen Ratsversammlung (Loya Jirga) über den Stellenwert der Landessprachen auszuräumen. Allerdings hat die Art und Weise, wie die ethnischen Gruppen in Kabul aufeinander geprallt sind, auch Spuren hinterlassen. Brahimi sprach von „Schürfwunden”, die in den kommenden Wochen und Monaten geheilt werden müssten.

Einige Paschtunen – diesem Mehrheitsvolk gehört auch der 2001 auf dem Petersberg eingesetzte Präsident Hamid Karzai an – wollten bis zuletzt erreichen, dass öffentliche Einrichtungen nicht in Dari, sondern in ihrer eigenen Sprache Paschtu bezeichnet werden sollten. Am Ende aber gaben sie nach – und gaben damit den Delegierten anderer Volkszugehörigkeit das Gefühl, sich erfolgreich behauptet zu haben. „Das ist eine sehr große Errungenschaft”, sagte der tadschikische Delegierte Sidik Chakari über die erzielte Übereinkunft. „Ich hoffe, dass dies zu Freundschaft zwischen unseren Völkern führen wird.” Noch am Neujahrstag hatte sich der Parteigänger des früheren afghanischen Präsidenten Burhanuddin Rabbani an einem Boykott der Verfassungsarbeit beteiligt.

Die ethnischen Gruppen verständigten sich darauf, die Sprachen von Minderheiten in den Regionen als amtlich zu erklären, in denen diese in der Bevölkerung besonders stark vertreten sind. „Wir sind froh und stolz, weil unsere Sprache nun einen verfassungsrechtlichen Status erhält”, sagte der usbekische Delegierte Hedajatullah Hedajat. Nach der Beilegung des Sprachenstreits verkündete der Vorsitzende der Loya Jirga, Sibghatullah Mojaddedi, den Erfolg der dreiwöchigen Arbeit und brachte Kopien des beschlossenen Verfassungstextes in Umlauf. Die 502 Delegierten erhoben sich zum Zeichen ihrer Zustimmung schweigend von ihren Plätzen.

Dann gab ihnen Mojaddedi noch eine Mahnung mit auf den Weg: „Lasst uns vor Gott und unserem Volk versprechen, diese Verfassung in die Realität umzusetzen. Wenn nicht, wird uns das nicht zum Guten gereichen.” Ob die Verfassung außerhalb von Kabul Anwendung finden wird, bleibt abzuwarten. Jedenfalls gibt sie Karzai die mächtige Stellung, die er von Anfang an angestrebt hat. Ohne die verfassungsrechtliche Verankerung eines Präsidialsystems – so hatte er von Anfang an angedeutet – sei er nicht bereit, bei Wahlen anzutreten.

Karzais mächtige tadschikische und usbekische Rivalen aus dem Lager der ehemaligen Nordallianz, deren Kämpfer 2001 das Taliban-Regime mit militärischer Unterstützung der USA aus Kabul verjagt hatten, konnten sich auch in einigen Punkten durchsetzen. So wurden gegenüber dem ursprünglichen Verfassungsentwurf die Vollmachten des Parlaments gestärkt – bis hin zu einem Vetorecht in besonders wichtigen Fragen. Der weitere Fahrplan für Demokratie und ein bisschen Wohlstand nach einem Vierteljahrhundert Bürgerkrieg ist abgesteckt. Im Juni soll die Präsidentenwahl stattfinden. Eine wirklich freie Wahl ohne Einschüchterung kann es aber nur geben, wenn die mächtigen Milizen in den Provinzen demilitarisiert werden, die schätzungsweise 100.000 Kämpfer unter Waffen haben. Derzeit kontrolliert die Karzai-Regierung lediglich die Hauptstadt Kabul.

 

  • VIENNA.AT
  • Chronik
  • Verfassung für Afghanistan
  • Kommentare
    Die Kommentarfunktion ist für diesen Artikel deaktiviert.