“Sie sind nur ein Symptom. Jede Gesellschaft, in der es Unterdrückung gibt, wo die soziale Gerechtigkeit nicht gewährleistet ist und es keine Aussicht auf einen friedlichen Wandel gibt, ist eine tickende Zeitbombe”, sagte ElBaradei am Freitag in einem Interview mit der APA.
Die Ereignisse in Tunesien seien auch ein “Weckruf für alle diktatorischen Führer”, so der 68-Jährige. “Solche Weckrufe kommen aber nicht überraschend. Sie zeigen den Herrschenden auch, dass sie ihre Ämter immer nur auf Zeit haben und nicht auf Ewigkeit.” Im 21. Jahrhundert seien die Menschen eben nicht mehr bereit, “in einer Gesellschaft zu leben, wo ihnen Basisrechte wie freie Meinungsäußerung, freie Religionsausübung oder ein Leben ohne substanzielle Ängste verwehrt werden.”
Das sei überall auf der Welt so, erklärte der ägyptische Diplomat. “Tunesien ist bloß ein aktuelles Beispiel. Ein politisches System, das auf Unterdrückung basiert, kann keine Stabilität gewährleisten. Einzig der Übergang zur Demokratie kann Stabilität garantieren”, so ElBaradei.
“In Demokratien wie Österreich gibt es automatisch eine Form von sozialer Gerechtigkeit”, analysierte der frühere IAEO-Chef. “Es muss ein Minimum an sozialen Standards geben, Gesundheitsversorgung, Bildungswesen, akzeptable Wohnverhältnisse. In jeder Demokratie stellt das Wohl der Menschen eine der Prioritäten dar.”
Daher finde er es manchmal “komisch, dass in der Forbes-Liste der 500 reichsten Menschen der Welt vier oder fünf Ägypter aufscheinen”, so ElBaradei. In einem Land, “in dem das durchschnittliche Prokopf-Einkommen im Jahr vielleicht 1.200 Dollar beträgt.”
Durch die “Medienpräsenz rund um die Erde” würden die Menschen auch weltweit über die vorhandenen Unterschiede Bescheid wissen, so ElBaradei: “Man kann sie nicht länger zum Narren halten. Auch wenn das in der Vergangenheit noch ging. Alle Regierungen riskieren eine Revolution, wenn sie nicht rechtzeitig friedliche Reformen ermöglichen.”
Am Donnerstag habe der tunesische Präsident Zine el Abidine Ben Ali gesagt, dass er nun verstehe, was das Volk wolle, mokierte sich ElBaradei. “Dafür hat er 23 Jahre gebraucht? Um zu erkennen, dass das Volk Medienfreiheit will, Versammlungsfreiheit, Demokratie, in jüngster Zeit auch Zugang zum Internet. Wenn man glaubt, die Menschen weiter wie eine Schafherde behandeln zu können, dann geht das eben schief.” Daher sei auch seine Heimat Ägypten – wie jedes andere Land auf der Welt – nicht vor Ereignissen und Entwicklungen, wie sie derzeit in Tunesien ablaufen, gefeit, warnte ElBaradei.