Es ist bereits dunkel, durch die abgelegene Straße in der Nähe von Kostjantyniwka in der Ostukraine weht ein eisiger Wind. Nervös stehen sich schwerbewaffnete ukrainische Soldaten und Kämpfer der prorussischen Rebellen im Abstand von nur hundert Metern gegenüber, um ihre Gefangenen auszutauschen. Bei Friedensgesprächen in Minsk hatten sich beide Seiten darauf geeinigt, insgesamt knapp 370 Häftlinge freizulassen. Es war das einzige Ergebnis der Verhandlungen – und wurde umgesetzt.
Gefangenenaustausch im Dunkel der Nacht
Die Straße nördlich von Donezk wird am Freitagabend nur von den Scheinwerfern der wartenden Autos beleuchtet. Vertreter der selbst ernannten “Volksrepublik Donezk” haben mit Bussen und Militärlastwagen 146 ukrainische Soldaten nach Kostjantyniwka gekarrt, die Regierungstruppen lassen 222 Menschen frei.
In zwei langen Reihen stellen Soldaten und Rebellen ihre Gefangenen auf. Alle tragen Zivilkleidung, viele halten große Taschen und Plastiksäcke mit ihren Habseligkeiten in den Händen. In Zehnergruppen werden die frierenden Gefangenen schließlich aufgerufen und auf die andere Seite geschickt.
“Sie wissen noch gar nicht, dass ich frei bin”
“Ich bin glücklich, dass ich nach Hause zurückkehren und meine Eltern und meine Frau sehen kann”, sagt der 28-jährige Artjom Sjurik. Er war Sanitäter bei den Truppen des ukrainischen Innenministeriums, als er vor vier Monaten von den prorussischen Rebellen gefangen genommen wurde. “Sie wissen noch gar nicht, dass ich frei bin.”
Poroschenko nimmt Soldaten in Empfang
Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko begrüßte auf einem Militärflugplatz 145 Soldaten, die in die Hände prorussischer Aufständischer geraten waren. “Als Präsident und als Bürger ist mein Herz voller Freude, dass Sie wie versprochen an Neujahr ihre Familien und Kampfgefährten treffen können”, kommentierte der pro-westliche Staatschef.
Weitere Gespräche möglich
Unklar blieb zunächst, ob es zu einem neuen Treffen der sogenannten Kontaktgruppe in Minsk kommt. Die Separatisten in der ostukrainischen Großstadt Luhansk (Lugansk) hielten Gespräche in den nächsten Tagen für möglich. Ein Termin stehe aber noch nicht fest, hieß es aus der Rebellenhochburg Donezk. Zuletzt hatte es am Heiligen Abend ein Treffen gegeben. Dabei war der Gefangenenaustausch vereinbart worden.
Er sei gefesselt und mit verbundenen Augen zu der Übergabe gebracht worden, berichtet seinerseits der Rebellenkämpfer Pawel Korokosow. Nach fünf Monaten in Gefangenschaft der ukrainischen Armee fühle er sich einfach nur “beschissen”. Der 21-jährige Rebellenkämpfer Denis Balbukow wartet in einem Lastwagen auf seine Rückkehr nach Donezk. Er wolle zu Hause einfach nur etwas Gutes essen und mit seinen Verwandten plaudern, erzählt er. Trotzdem zeigt er sich entschlossen, “in den Kampf zurückzugehen”.
Andere Gefangene in der Gewalt der ukrainischen Regierungstruppen berichten, sie seien nie an Kampfhandlungen beteiligt gewesen. “Sie brauchten einfach Leute, um sie gegen ihre Soldaten austauschen zu können, also haben sie jeden festgenommen”, sagt Tatjana aus der südöstlichen Hafenstadt Mariupol. Sie sei bei ihrer Gefangennahme ganz normal zu Hause gewesen. “Jetzt tauschen sie mich gegen Soldaten aus.”
Russland stuft Ukraine und Nato als “Gefahr” ein
Begleitet wurde die Freilassung der Kämpfer von Diskussionen über die neue russische Militärdoktrin. In dem am Freitag veröffentlichten Strategiepapier stuft die Führung unter Präsident Wladimir Putin den Konflikt in der Ukraine und die Nato-Osterweiterung als Gefahr für ihre eigene Sicherheit ein.
Nato: Es ist vielmehr Russland…
Die Nato wies darauf hin, dass sie sich nicht als Bedrohung sieht. “Die Nato stellt weder für Russland noch für irgendeine andere Nation eine Gefahr dar”, kommentierte Sprecherin Oana Lungescu. Alle Maßnahmen, die zum Schutz der Bündnispartner ergriffen würden, seien klar defensiver Natur, angemessen und vereinbar mit internationalem Recht. “Es ist vielmehr Russlands Handeln, das Völkerrecht bricht und die Sicherheit Europas infragestellt”, sagte Lungescu. Dies gelte auch für das aktuelle russische Handeln in der Ukraine.
Putin versicherte, an dem grundlegenden Verteidigungscharakter der Doktrin ändere sich durch die Überarbeitung nichts. Er hatte zuletzt mehrfach betont, dass Russland kein “Aggressor” sei.
Ukraine forciert Nato-Beitritt
Als ein Grund für die Überarbeitung der russischen Militärdoktrin gilt der Nato-Kurs der Ukraine. Das Parlament der Ex-Sowjetrepublik hatte am Dienstag ein Gesetz über das Ende der Blockfreiheit verabschiedet. Damit will sich die Ukraine von Russland abwenden und den Weg für einen Beitritt zur westlichen Allianz freimachen.
Die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite bekräftigte in einem Interview die Unterstützung des baltischen EU- und Nato-Mitglieds für die Ukraine. Zugleich warb sie für Gespräche mit Russland. “Ein Dialog ist aber nur dann möglich, wenn die Aggression aufhört und die territoriale Integrität der Ukraine wieder hergestellt ist”, mahnte sie. Der Westen hat Russland wegen der Annexion der Halbinsel Krim und dessen umstrittener Ukraine-Politik mit Sanktionen belegt.
Demonstration des guten Willens: Kohle und Strom für Ukraine
Russland begann nach eigenen Angaben mit der Lieferung von Kohle und Strom in die vor dem Staatsbankrott stehende Ukraine. Dies sei eine Demonstration des guten Willens für eine Unterstützung der Ukraine kurz vor dem Neujahrsfest, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. Vor allem im umkämpften Osten der Ukraine leben viele Menschen wegen einer Blockade der Regierung ohne Heizung und Strom. (APA/red)