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Ukraine: Erstes Gespräch am Freitag

Der amtierende ukrainische Staatschef Kutschma und Oppositionsführer Juschtschenko sind erstmals seit Ausbruch der Massenproteste gegen Fälschungen der Präsidentenwahl zusammengetroffen. Die Proteste in Kiew dauern an.  

An dem Treffen am Freitag in Kiew nahmen als Vermittler unter anderen der außenpolitische Beauftragte der Europäischen Union (EU), Javier Solana, und der polnische Präsident Aleksander Kwasniewski teil, berichtete das ukrainische Fernsehen.

Marina Stawnijtschuk, Mitglied der zentralen Wahlleitung, dementierte Meldungen, sie habe ihre Unterschrift unter dem offiziellen Protokoll des Endergebnisses zurückgezogen. Nur ein Mitglied der Kommission habe nachträglich gegen die Erklärung von Ministerpräsident Viktor Janukowitsch zum gewählten Präsidenten protestiert. Drei der 15 Mitglieder hatten das Endergebnis von vornherein nicht gebilligt.

Die Massendemonstrationen beider Lager in Kiew dauerten auch am Freitagabend an. Sie hoffen, bangen, frieren und feiern. Für ihren Traum von Freiheit und Gerechtigkeit harren tausende Menschen Tag und Nacht auf den bitterkalten Straßen im Kiewer Stadtzentrum aus. Auf der Prachtmeile Chreschtschatik, die den Platz der Unabhängigkeit kreuzt, wächst seit der umstrittenen Präsidentenwahl vom vergangenen Sonntag ein riesiges Lager aus Zelten, Buden und Omnibussen.

Mitten im knöcheltiefen Schneematsch, in Bergen von gespendeten Wollpullovern, Stiefeln und Mützen steht die 21-jährige Studentin Ira. „Ich hätte niemals gedacht, dass unser Volk sich so einig ist“, sagt die groß gewachsene, dunkelhaarige Frau. Vier Nächte hat sie bereits im Zelt verbracht, bei Temperaturen von mehr als zehn Grad unter Null. Auf dem Kopf trägt Ira eine blaue Pelzmütze der Polizei, die Füße stecken in gefütterten Anglerstiefeln.

Wenn sie in die Gesichter der Menschen blicke, deren Begeisterung, Optimismus und Ausdauer sehe, verspüre sie mit jedem Tag mehr Kraft, sagt Ira und streift sich dicke Filzhandschuhe gegen die Kälte über. Die Ukrainer, eines der größten Völker Europas, gehen in diesen Novembertagen auf die Straße, weil sie sich nach eigenen Angaben nicht mehr betrügen lassen wollen.

Im Zeltlager am Unabhängigkeitsplatz herrscht ein wohlorganisiertes Chaos. Hunderte Zelte stehen nebeneinander. An freien Ecken stapeln sich Brennholzscheite, Einmachgläser mit Gurken und Kisten mit Vitamin-Tabletten, die Kiewer Bürger den Demonstranten gebracht haben. Tagsüber taut der Schnee ein wenig auf, es bilden sich tiefe Lacken. Wie die Ameisen klettern die Menschen über Holzpaletten, Bretter und Platten, um trockenen Fußes von einer Stelle zur nächsten zu kommen.

Die „orange Revolution“ hat aus den bis dahin häufig ermatteten, verhärmten Ukrainern über Nacht ein Volk aus aufmerksamen, zuvorkommenden Menschen gemacht. Auf den spiegelglatten Stufen am Unabhängigkeitsplatz gleitet nur selten jemand zu Boden, weil immer von irgendwoher eine stützende Hand oder ein rettender Arm hervorschnellt.

„Vorletzte Nacht hatten wir kein heißes Wasser mehr für Tee“, erinnert sich die Jusstudentin Ira. Sofort seien ein paar Großmütter von nebenan bereit gestanden, hätten daheim die Kocher angeworfen und das heiße Wasser in Töpfen zum Zeltlager gebracht. Obwohl die meist jugendlichen Bewohner nur wenige Stunden in den vergangenen Tagen geschlafen haben, ist die Stimmung ausgelassen. Nachts, wenn es wirklich kalt und trist wird, tanzen einige Walzer, ohne Musik. „In unseren wattierten Hosen und Jacken sehen wir dabei aus wie Teletubbies“, amüsiert sich Ira. Andere singen zur Gitarre.

Wer es vor Kälte nicht mehr aushält, geht zur Ecke Proresnaja-Straße. Dort stehen im Schichtdienst immer mehrere Taxis, die den Motor laufen lassen und die Verfrorenen für ein paar Minuten ins Auto lassen.

Auf einem Hügel über dem Zentrum stehen sich seit drei Tagen tausende Demonstranten und Wachpolizisten vor dem Präsidentenamt Auge in Auge gegenüber. Die Schutzschilde der Polizisten sind mit Blumen, orangen Luftballons und Fähnchen dekoriert worden. Die Stimmung ist friedlich. Nachts, wenn es allen langweilig wird, bitten die Polizisten die Demonstranten, ukrainische Volkslieder zu singen. Doch es kommt nicht zur Verbrüderung. Der Kordon vor dem Präsidentenamt, der die Macht des scheidenden Präsidenten Leonid Kutschma schützen soll, bleibt vorerst undurchdringlich.

Die Massendemonstrationen bleiben im Staatsapparat nicht ohne Folgen. Auf der Bühne am Unabhängigkeitsplatz steht eine Gruppe von Kadetten in blauer Uniform. Die zukünftigen Polizisten haben sich ein Herz gefasst und bekunden ihre Sympathien für die Demonstrationen.

Ein junger Mann in Uniform tritt ans Mikrofon und berichtet unter dem Jubel von zehntausenden Menschen, dass die Polizei auf der Seite des Volkes sei. „Unsere Geschichte mit Hungerterror und Zweitem Weltkrieg hat uns gelehrt, dass wir niemals gegeneinander kämpfen dürfen“, ruft der Polizist. Dann bittet der junge Mann die gewaltige Menschenmasse, mit ihm die ukrainische Nationalhymne zu singen. Als die ersten Worte der Hymne („Noch ist die Ukraine nicht gestorben“) in einem gewaltigen Chor erschallen, rinnen den erschöpften, aufgewühlten Menschen Tränen über die Wangen.

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