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Türkei: Presse feiert Startschuss

Die türkische Presse hat am Samstag den Startschuss für EU-Beitrittsver-handlungen der Türkei ab Oktober nächsten Jahres mit Jubel aufgenommen. "Wir haben es geschafft", so die Schlagzeile der Tageszeitung "Hürriyet".

Das Blatt schreibt: „Die Türkei hat das Datum für den Beginn von Verhandlungen bekommen. In einem knochenharten Verhandlungsringen haben wir nicht alles bekommen, was wir wollten, aber wir haben auch nicht bei allem nachgegeben, was man von uns verlangt hat.“

„Wir sind jetzt auch dabei“, freut sich die Zeitung „Milliyet“ auf der Titelseite und zitiert die Abschiedsworte von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in Brüssel: „Bye, bye, wir kommen wieder.“ Die Erdogans Regierung nahe stehende Zeitung „Yeni Safak“ meint zu dem dramatischen Durchbruch auf dem Brüsseler EU-Türkei-Gipfel vom Vortag: „Ein historischer Schritt, ein historischer Schachzug.“

Alle türkischen Blätter schildern das dramatische Ringen um die Frage einer formellen Anerkennung der griechisch-zypriotischen Republik Zypern durch Ankara, die den Brüsseler Gipfel fast zum Scheitern gebracht hatte. Wenig Beachtung finden hingegen die von der Türkei geforderten Beschränkungen etwa in Fragen der Freizügigkeit für türkische Arbeitskräfte nach einem EU-Beitritt.

Internationale Pressestimmen zum Türkei-Beitritt

Zu den geplanten Verhandlungen über einen Beitritt der Türkei in die EU schreibt die Mailänder Zeitung „Corriere della Sera“ am Samstag:

„Die Verhandlungen über einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union sollen am 3. Oktober 2005 beginnen. Vielleicht. An diesem Tag können gleichzeitig der Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung und der erste Schritt hin zu einer neuen europäischen Identität gefeiert werden. Vielleicht. Denn eigentlich haben in Brüssel – trotz der gegenseitigen Glückwunsch-Bekundungen – die Zweifel die Oberhand behalten. Es gibt überall Hindernisse bei dieser ’Verlobung’, die sich schon jetzt für das Jahr 2015 als die qualvollste aller Hochzeiten darstellt.“

„La Stampa“ (Turin):

„Dies ist eine Vereinbarung, die alle zufrieden stellt. Die Europäer, die eine Geste hinsichtlich der türkischen Öffnung in Richtung Zypern wollten. Und auch (den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip) Erdogan, der nicht sofort formelle Gesten zeigen und die ’Türkische Republik Nordzypern’ einfach so aufgegeben wollte. (…) Aber auch wenn Zypern – wie es vorherzusehen war – der Hauptgrund für die Erhitzung der Gemüter bei den Verhandlungen war: Die wichtigsten in dem Dokument festgehaltenen Punkte betreffen den Zeitplan und den Ablauf der zukünftigen Verhandlungen. Und diesbezüglich ist es Erdogan nicht gelungen, der EU viele Zugeständnisse abzuringen.“

„Tages-Anzeiger“ (Zürich):

„Die Türkei ist auf dem Weg nach Europa. Der Entscheid der EU-Staats- und Regierungschefs, Beitrittsgespräche mit Ankara zu beginnen, ist zu Recht als ’historisch’ bezeichnet worden. (…) Die Verhandlungen werden trotz allen Einschränkungen, Sicherheitsklauseln und Notbremsen mit dem Ziel eines Vollbeitritts geführt. Dieser aber wird die EU grundlegend verändern.

Die Türkei sprengt den bisherigen Rahmen der Union in jeder Hinsicht: Es gibt künftig keine natürlichen geographischen Grenzen mehr für die Ausdehnung der Gemeinschaft. Die Türkei liegt zum großen Teil außerhalb des europäischen Kontinents. Gleichzeitig fordert der absehbare Beitritt eines muslimischen Landes Europa kulturell heraus (…). Weiter überfordert die Türkei die bisherigen Solidaritäts- und Umverteilungsmechanismen der EU vollends. Brüssel wird sich nach dem Beitritt der Türkei die bisherige Agrar- und Strukturpolitik finanziell nicht mehr leisten können.“

Die auflagenstarke französische Zeitung „Ouest-France“ kommentiert am Samstag den Beschluss zur Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei:

„Es ist ein Widerspruch, wenn man neue Mitglieder aufnimmt, deren Lebensstandard sehr unter dem Durchschnitt der Europäer liegt, ohne die nötigen Mittel für ihre wirksame Integration bereitzustellen. Und man kann nicht hinnehmen, dass diese Tatsache nicht offen ausgesprochen wird. Der Beitritt der Türkei zwingt uns, sich unseren Problemen zu stellen. Europa ist sowohl ein geographischer als auch ein demographischer Raum, ein Handels- und ein Demokratieraum. Über dieses Europa, diesen Motor des Friedens, muss man nachdenken. Dieses Europa muss man anders strukturieren, als wir es anfangs gedacht hatten. Dieses Europa muss man mit neuen und künftigen Mitgliedern konsolidieren, damit es mehr Einfluss und Ausstrahlung gewinnen kann.“

„Le Figaro“ (Paris)

„Europa hat so lange wegen der Türkei gezögert, doch sein Schicksal wird ganz woanders entschieden. Unter anderem heute im Weltraum mit dem Start von (der europäischen Trägerrakete) Helios. Die Amerikaner, die Präsident Jacques Chirac beschuldigen, Europa zur Aufhebung des Waffenembargos gegen China zu drängen, regen sich darüber auf, dass China zur gegebenen Zeit militärische Ausrüstung kaufen könnte, die mit dem europäischen Satelliten Galileo kompatibel ist.

Anders gesagt: Es gäbe mehr Verträge für (den europäischen Luft- und Raumfahrtkonzern) EADS und weniger für (den US-Flugzeugbauer) Boeing. Am Ende haben Europäer und Amerikaner diesen Sommer einen Kompromiss geschlossen, der die Zusammenarbeit beider Systeme ermöglicht. Das ist das ewige Paradox des transatlantischen Bündnisses. Washington will, dass die Europäer seine Militärlasten teilt, doch nicht so weit, dass sie für die Macht der USA eine Konkurrenz werden könnten. In diesem ungleichen Spiel ist Helios IIA ein Zeichen: Wenn Europa will, kann es.“

„Le Monde“ (Paris):

„In vielen Bereichen, von den Menschenrechten über die Justiz bis zur Polizei, muss die Türkei die Gesetzestexte in die Wirklichkeit umsetzen. Darüber hinaus muss sich die Türkei endgültig mit ihren Nachbarn und mit sich selbst, mit ihrer Geschichte, aussöhnen. Sie muss diese Aufarbeitung ihrer Vergangenheit akzeptieren, wie andere europäische Länder dies getan haben, um wahre demokratische Gesellschaften zu werden.

Man denke an das schmerzende Gewissen des deutschen Volkes wegen der Shoah. Die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern 1915 hilft der Türkei nicht, sich von ihrer Geschichte zu befreien, indem sie sich ihr nicht voll stellt. Zu den Hauptprinzipien der Europäischen Union zählt, dass sie Bewerbern hilft, sich zu reformieren, zu modernisieren, die Rechte der Minderheiten zu achten und Vorherrschaftsgelüste aufzugeben. Es gibt keinen Grund, warum diese pädagogische Tugend nicht auch bei den Türken funktionieren sollte.“

Zur EU-Einigung über den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei schreibt die konservative Londoner Tageszeitung „The Times“ am Samstag:

„Es ist geschafft. Es wurde ein Abkommen geschlossen, das es der Türkei ermöglichen könnte, innerhalb von zehn Jahren in Europa wieder eine wichtige Rolle zu spielen. Die Verhandlungen bedeuten aber noch keine automatische Mitgliedschaft. Die Türkei hat bei den Reformen große Fortschritte gemacht. Aber es muss noch mehr getan werden. Die Folter muss ausgemerzt werden. Die Wirtschaft hinkt weit hinter der Entwicklung in den ärmsten EU-Ländern hinterher. Die politischen Freiheiten sind noch nicht unwiderrufbar verankert. Die Verhandlungen werden hart und lang sein und niemand – nicht einmal die Türkei – hält eine Qualifizierung für die Mitgliedschaft vor dem Ablauf von zehn Jahren für möglich.“

„Financial Times“ (London):

„Nach 41 Jahren im Wartezimmer hat die Türkei jetzt ein Datum für den Verhandlungsbeginn bekommen. Das ist in der Tat historisch. Eine Mitgliedschaft würde die EU verändern und die Türkei transformieren. Aber noch wichtiger ist, dass die EU eine Brücke zu einem demokratischen Land schlägt, das eine muslimische Bevölkerungsmehrheit hat. Zu einem Zeitpunkt, wo Muslime in aller Welt die USA wegen ihrer Politik verdammen, kann die Nutzung der ’stillen Macht’ der EU gar nicht überschätzt werden.“

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