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Türkei: Öcalan-Panik in Ankara

Der Mann sitzt seit mehr als sechs Jahren in einer Einzelzelle und wird von hunderten Soldaten bewacht - doch Abdullah Öcalan kann Ankara immer noch erzittern lassen.

An diesem Donnerstag verkündet der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg sein Urteil im Fall des PKK-Chefs, und allgemein wird erwartet, dass dieses Urteil die Forderung nach einem neuen Verfahren gegen Öcalan in der Türkei nach sich ziehen wird.

Der türkischen Regierung ist klar, dass sie neue Belastungen für ihre EU-Bewerbung riskiert, wenn sie einen neuen Prozess ablehnt – doch Nationalisten verlangen, Ankara solle auf Europa pfeifen. Die neuen Spannungen um Öcalan eskalieren zu einer Zeit, in der auch die Kämpfe zwischen der Armee und der PKK wieder zunehmen. Nach Angaben der PKK haben türkische Truppen zum ersten Mal seit Jahren wieder die Grenze zum Irak überschritten.

Türkische Polizisten hatten Öcalan im Februar 1999 in Kenia festgenommen und in die Türkei gebracht. Erst nach einer Woche auf der Gefängnisinsel Imrali durfte der PKK-Chef mit einem Anwalt sprechen, und dann auch nur in Hörweite der Sicherheitskräfte. Zu Beginn des Hochverratsprozesses gegen den PKK-Chef auf Imrali saß noch ein Militärvertreter mit auf der Richterbank; zudem galt in der Türkei damals noch die Todesstrafe, auch wenn diese später in lebenslange Haft umgewandelt wurde.

Nach dem Schuldspruch zogen Öcalans Anwälte vor das Straßburger Menschenrechtsgericht, an dessen Entscheidungen sich die Türkei als Mitglied des Europarats halten muss. In einem ersten Verfahren bekam Öcalan Recht. Die türkische Regierung rechnet damit, dass der inzwischen 57-jährige Öcalan auch am Donnerstag in Straßburg siegen und anschließend ein neues Verfahren in der Türkei beantragen wird.

Im Zuge der EU-Reformgesetze der letzten Jahre wurde zwar die Todesstrafe abgeschafft, auch gibt es bei Prozessen gegen Zivilisten längst keine Militärrichter mehr. Doch als die Türkei für ihre Bürger die Möglichkeit schuf, vor türkischen Gerichten neue Verfahren anzustrengen, wenn sie in Straßburg einen Prozess gewonnen haben, wurde Öcalan mit Hilfe einer Zeitklausel von diesem Recht ausgenommen. Damit wollte Ankara einen neuen Öcalan-Prozess vermeiden.

Es sieht nicht so aus, als ob die Türkei damit durchkommen würde. In Ankara wird erwartet, dass sich Öcalan als türkischer Staatsbürger auf einen Verfassungsartikel berufen wird, der internationalen Vereinbarungen Vorrang vor türkischen Gesetzen einräumt. Zudem wird der politische Druck auf Ankara immens sein, dem PKK-Chef einen neuen Prozess einzuräumen. Mit einer Weigerung könnte die Türkei ihre EU-Bewerbung in Gefahr bringen, warnte das türkische Außenamt nach Presseberichten in einem internen Papier. Die Türkei könnte zudem vorübergehend aus dem Europarat ausgeschlossen werden.

Die türkische Regierung muss aber nicht nur mit Druck von außen zurechtkommen, sondern auch mit Druck von innen. Die rechtsnationalistische Partei MHP forderte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan bereits auf, Öcalan auf keinen Fall ein neues Verfahren zuzugestehen, und warnte, andernfalls werde sich die Türkei „erheben“. Nach der jüngsten Nationalismus-Welle, bei der angebliche Fahnenverbrennungen zur Menschenjagd in türkischen Städten führten, lassen solche Drohungen eine neue Eskalation befürchten. Für viele Türken ist Öcalan schuld am Krieg zwischen Armee und PKK von 1984 bis 1999 und damit schuld am Tod von mehr als 35.000 Menschen.

Erdogans Regierung versucht deshalb, die Öffentlichkeit zu beruhigen. Die Türkei habe von einem neuen Prozess nichts zu befürchten, Öcalan werde auch in einem neuen Prozess verurteilt, betonen Regierungspolitiker und regierungsnahe Medien. Die Regierungspartei AKP will auf die größte Oppositionspartei, die sozialdemokratische CHP, einwirken, um zu verhindern, dass der Fall Öcalan zum parteipolitischen Zankapfel wird.

Nicht nur die Rechtsnationalisten, auch die neuen Kämpfe im türkischen Südosten und Anschläge mutmaßlicher Kurdenkämpfer könnten die Versuche der Regierung zur Beruhigung der Öffentlichkeit zunichte machen. Bei den jüngsten Gefechten zwischen Armee und PKK sind in den vergangenen Wochen mehrere Dutzend Menschen getötet worden. Gleichzeitig nahmen die türkischen Behörden in mehreren Landesteilen mutmaßliche Bombenleger der PKK fest; im westtürkischen Kusadasi wurde ein Polizist von einem Sprengsatz getötet. Ein neuer Öcalan-Prozess dürfte die Spannungen noch weiter anheizen.

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