AA

Türkei akzeptiert Straßburger Urteil

Die Türkei hat das Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs im Fall Abdullah Öcalan akzeptiert und will dem PKK-Chef einen neuen Prozess ermöglichen.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat den Prozess gegen PKK-Chef Abdullah Öcalan als rechtswidrig gewertet und der Türkei empfohlen, das Verfahren neu aufzurollen. Im Öcalan-Prozess vor einem Staatssicherheitsgericht habe die Türkei 1999 gegen das Grundrecht auf einen fairen Prozess verstoßen, erklärte das Straßburger Gericht am Donnerstag.

“Menschenunwürdige Behandlung”

Zudem sei das 1999 ausgesprochene Todesurteil eine „menschenunwürdige Behandlung“ gewesen, da der Verurteilte in Angst vor einer Hinrichtung habe leben müssen. Die Todesstrafe gegen Öcalan wurde 2002 in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt. Der Menschenrechtsgerichtshof bestätigte am Donnerstag sein erstinstanzliches Urteil vom März 2004; eine Berufung ist nicht möglich.

Die Türkei will Öcalan nun einen neuen Prozess ermöglichen. Ein neuer Prozess oder die Wiederaufnahme des Verfahrens seien angemessene Mittel, um den festgestellten Verstoß gegen das Grundrecht auf einen fairen Prozess zu korrigieren, erklärte das Straßburger Gericht. Es rügte unter anderem, dass Öcalan nach seiner Verschleppung aus Kenia im Februar 1999 eine Woche in Polizeigewahrsam war, ohne einen Anwalt sprechen zu können.

Später seien die Anwälte nur kurz zu ihm gelassen worden und hätten mit ihrem Mandanten nur in Anwesenheit von Sicherheitskräften sprechen können. Auch hätten sie erst sehr spät Einsicht in die Akten erhalten. Öcalan selbst habe die Anklageschrift erst unmittelbar vor Beginn seines Prozesses im Juni 1999 lesen dürfen.

Grundrecht auf einen fairen Prozess

In dem türkischen Staatssicherheitsgericht habe zunächst auch ein Militärrichter gesessen, stellte der Menschenrechtsgerichtshof weiter fest. Er sei zwar später durch einen zivilen Richter ersetzt worden. Dies sei aber nicht geeignet gewesen, um die Zweifel des Klägers an der Unabhängigkeit des Gerichts auszuräumen. Insgesamt sei mit diesem Verfahren gegen das Grundrecht auf einen fairen Prozess verstoßen worden (Artikel 6 der Menschenrechtskonvention).

Nach der Verurteilung zum Tode am 29. Juni 1999 wegen „Separatismus“ habe Öcalan mit einer Hinrichtung rechnen müssen – zumal es eine breite öffentliche Debatte über eine mögliche Vollstreckung des Urteils gegeben habe. Mit dieser Angst habe er bis Oktober 2002 leben müssen, als nach der Abschaffung der Todesstrafe in der Türkei seine Strafe in lebenslange Haft umgewandelt wurde. Unter diesen Umständen habe das Todesurteil gegen das Verbot unmenschlicher Behandlung verstoßen. (Artikel 3 der Menschenrechtskonvention).

Reaktionen aus der Türkei

Der stellvertretende Vorsitzende der türkischen Regierungspartei AKP, Dengir Mir Mehmet Firat, sagte nach der Urteilsverkündung, die Türkei sei ein Rechtsstaat und werde die gesetzlich erforderlichen Maßnahmen zur Umsetzung des Urteils treffen. Die türkischen Justizbehörden würden nun entscheiden, wie in dem Fall vorgegangen werde. Möglicherweise müssten für eine Wiederaufnahme des Prozesses einige Gesetze geändert werden. Zugleich betonte Firat, im Falle einer neuen Verurteilung werde das Strafmaß unverändert sein. „Dieser Fall ist in den Augen des türkischen Volkes abgeschlossen.“

Die Regierung werde tun, was sie tun müsse, sagte ein Regierungssprecher dem amtlichen Fernsehsender TRT. Die türkische Bevölkerung müsse aber nicht befürchten, dass der Anführer der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK frei kommen werde. Der Vize-Fraktionsvorsitzende der AKP im türkischen Parlament, Sadullah Erdingans, zeigte sich enttäuscht über das Urteil. „Natürlich ist das nicht die Entscheidung, die wir uns gewünscht haben“, sagte er in Ankara.

In der Sache hart

Das Urteil ändere aber „nichts an der Sicht der Türkei auf den Terrorismus und die Terroristen“. Der britische Anwalt Öcalans, Mark Muller, sagte nach der Urteilsverkündung, das Urteil des Gerichtshofs sei „kristallklar“. Öcalan habe keinen fairen Prozess bekommen, das Staatssicherheitsgericht sei als parteiisch gerügt worden. „Daher sollte es einen neuen Prozess geben.“ Die Türkei sei dazu zwar nicht formell verpflichtet, erläuterte der türkische Anwalt Kerim Yildiz. Es werde für die Regierung in Ankara aber „sehr schwer sein, eine so klare Entscheidung zu ignorieren.“

Die beiden Anwälte wollen nach eigenen Angaben nun mit dem auf der Gefangeneninsel Imrali inhaftieren Öcalan sprechen. Es sei „möglich“, dass Öcalan einen neuen Prozess fordere. Öcalan sitzt auf Imrali in Einzelhaft. Einmal pro Woche dürfen seine Anwälte ihn besuchen. Den Verteidigern wird immer wieder vorgeworfen, sie betätigten sich dabei als Kuriere zwischen Öcalan und der PKK.

Hintergrund:

Urteil bringt Ankara in eine schwierige Lage

Chronologie des Falls Öcalan

Stichwort: Gerichtshof für Menschenrechte

  • VIENNA.AT
  • Chronik
  • Türkei akzeptiert Straßburger Urteil
  • Kommentare
    Die Kommentarfunktion ist für diesen Artikel deaktiviert.