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Türkisches Gericht rechtfertigt Massenvergewaltigung

Minderjähriges Opfer "wollte Geschlechtsverkehr selbst".
Minderjähriges Opfer "wollte Geschlechtsverkehr selbst". ©Bilderbox / Symbolbild
Die osttürkische Provinz Mardin im Jahr 2002. Mehr als zwei Dutzend scheinbar ehrenwerte Bürger, darunter Beamte, Lehrer, Soldaten und der Chef der örtlichen Landwirtschaftskammer, verschaffen sich über zwei Zuhälterinnen Kontakt zu dem Mädchen Nailan und vergewaltigen die 13-Jährige regelmäßig. Schließlich gelingt Nailan die Flucht, Anwälte nehmen sich des schwer traumatisierten Mädchens an und bringen die Täter vor Gericht. Doch diese könnten billig davonkommen.

Vor wenigen Tagen entschied das höchste Berufungsgericht des EU-Bewerberlandes Türkei, dass die Vergewaltiger nur Mindeststrafen erhalten dürften – weil das Mädchen den Geschlechtsverkehr selbst gewollt habe. Gut möglich, dass die Männer keinen einzigen Tag hinter Gittern verbringen müssen. “Bisher war noch keiner im Gefängnis”, sagte Nailans Anwältin Reyhan Baydemir auf Anfrage. “Möglicherweise bleiben alle auf Dauer frei.” Denn das Verfahren steht vor der Verjährung.

Türkische Öffentlichkeit geschockt

Die richterliche Milde für die Peiniger von Nailan – ihr wahrer Name darf nur mit den Initialen N.C. wiedergegeben werden – hat die türkische Öffentlichkeit geschockt. Wie kann es sein, das einige der höchsten Richter des Landes ein solches Skandalurteil fällen? Die Antwort von Frauenrechtlerinnen fällt vernichtend aus. Das Urteil stehe für die Macht eines männlichen Chauvinismus in der türkischen Gesellschaft, der Frauen als untergeordnete Wesen betrachte.

So wie im Fall Nailan, einem Justizskandal von Anfang bis Ende: Gerichtsgutachter erklärten, Nailan hätte zu den Vergewaltigern auch Nein sagen können, habe aber mit dem Sex Geld verdienen wollen. “Das sind die Fantasien dieser Männer”, schimpfte die Frauenrechtlerin Hülya Gülbahar: “Die denken, ein 13-jähriges Mädchen wolle unbedingt mit 60-jährigen Männern Gruppensex treiben.”

13-Jährige mehrmals operiert

Nailan musste wegen der erlittenen Verletzungen mehrmals operiert werden, verbrachte Jahre in einem Istanbuler Kinderheim und hat noch heute Alpträume. Die Anwältin Eren Keskin und die Menschenrechtlerin Levent Yurtsever nahmen sie wie eine Tochter auf, sie konnte die Schule abschließen und will Juristin oder Journalistin werden. Das Urteil des Berufungsgerichts habe ihr nun einen neuen Schock versetzt, sagte Nailans Pflegemutter Yurtsever der Zeitung “Vatan”.

Frauenrechtlerin Gülbahar sieht das Nailan-Urteil als Teil eines bedenklichen Trends. Erst kürzlich habe das Verfassungsgericht den Türkinnen unter Verweis auf die Tradition verboten, nach der Heirat ihren eigenen Namen zu behalten. Ein Berufungsrichter schlug vor, ein Vergewaltiger solle straffrei bleiben, wenn er sein Opfer heirate. Diese Regel war im Zuge der EU-Reformen abgeschafft worden.

Keine Frau in der Strafkammer

Doch diese Reformen seien in den Gerichten nichts wert, sagte Gülbahar. “Da gibt es eine unausgesprochene Vereinbarung zwischen den Männern: Wie sehr auch die Gesetze reformiert werden, wir wenden sie einfach nicht an.” In der Strafkammer, die das Urteil im Fall Nailan sprach, sitzt keine einzige Frau. Anderswo sieht es nicht viel besser aus. In der Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan findet sich genau eine Ministerin, das Frauenministerium ließ er in Familien- und Sozialministerium umbenennen.

In Ankara hagelte es nach dem Nailan-Urteil Kritik von allen Parteien an der Justiz, auch die Regierung distanzierte sich. Zugleich wurde die Hoffnung laut, der Richterspruch könne noch von der Großen Kammer des Berufungsgerichts kassiert werden. Dass die ebenfalls eingeschalteten Richter des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes in Straßburg das Opfer Nailan in den Mittelpunkt stellen und den türkischen Berufungsrichtern eine schallende Ohrfeige verpassen werden, gilt ohnehin als ausgemacht. (APA)

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