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Türkei: "Wir Kurden werden ermordet"

Ein Unterstützer von Selahattin Demirtas, Co-Vorsitzender der Halkların Demokratik Partisi.
Ein Unterstützer von Selahattin Demirtas, Co-Vorsitzender der Halkların Demokratik Partisi. ©AFP
Nedim Arik ist verzweifelt. "Was will die Regierung denn noch von uns?", fragt der Kurde. "Sie tötet uns doch schon. Was sollen wir noch machen, damit Tayyip uns in Ruhe lässt?", sagt er vor einer Teestube im Istanbuler Stadtteil Tarlabasi stehend. Mit Tayyip ist Präsident Recep Tayyip Erdogan gemeint.

In dem Viertel Tarlabasi leben besonders viele Kurden, die in den 90er-Jahren vor dem Bürgerkrieg im Südosten der Türkei in die Millionenstadt geflohen sind.

2015: Kurdische Partei schaffte erstmals Einzug ins Parlament

Als die prokurdische Partei HDP bei den Parlamentswahlen am 7. Juni letzten Jahres erstmals den Einzug ins Parlament schaffte, wurde hier ausgiebig auf den Straßen gefeiert. “Selo, Selo! Selo Ministerpräsident!”, riefen damals freudig viele. Mit Selo meinten sie den Ko-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtas. Auch der 53-jährige Arik jubelte lauthals, als er die Wahlergebnisse sah. “Endlich waren wir als Einheit eine politische Kraft”, sagt der Bauarbeiter mit bitterer Stimme. “Doch jetzt werden wir Kurden wieder vom Staat ermordet.”

So wie Arik denken viele hier in Tarlabasi. Denn tatsächlich war am 7. Juni erstmals klar, dass die Kurden nicht als “unabhängige” Einzelkandidaten, sondern als Partei und damit als Fraktion im türkischen Parlament vertreten sein würden. Doch heute, nur wenige Monate und eine weitere Neuwahl später, ist die Situation eine ganz andere.

Konflikt mit PKK wieder eskaliert

Der jahrzehntelange Konflikt der Regierung in Ankara mit der verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) war nach den Parlamentswahlen im Juni wieder eskaliert, der vor drei Jahren eingeleitete Friedensprozess wurde eingefroren. Die HDP-Politiker fürchten um ihre politische Immunität, seit Monaten schon herrschen in Teilen der Südosttürkei bürgerkriegsähnliche Zustände.

Ganze Ortschaften wie in Cizre, Diyarbakir oder Silop werden von der Armee belagert, weil sich dort PKK-Rebellen verschanzt haben, und gegen die türkische Sicherheitskräfte schießen. Weil kaum Journalisten vor Ort sind, lassen sich viele Nachrichten nicht überprüfen. In vielen Vierteln herrschen Ausgangssperren, die Strom- und Wasserversorgung wurden gekappt. Die prokurdische Menschenrechtsorganisation IHD gibt an, dass bereits über 200.000 Zivilisten aus den umkämpften Gebieten geflohen seien.

“Die Bilder heute sehen aus wie von damals”, sagt der Kurde Arik. Neben ihm vor der Teestube raucht Erhan Celik eine Zigarette. Auch er, so sagt er, sei in den 1990er Jahren aus der Kurdenhochburg Diyarbakir nach Istanbul geflohen, “damit ich nicht auch noch in diesem sinnlosen Bürgerkrieg ums Leben kommen”. Über die jetzt wieder laut gewordenen Autonomieforderungen der Kurden können Arik und Celik nur den Kopf schütteln. “Wie können die Kurden so dumm sein, und in der jetzigen Situation auch noch diese Forderungen stellen?”, sagt der Automechaniker Celik, und zieht an seiner Zigarette.

Derzeit politisch keine Annäherung

Tatsächlich gibt es momentan auch politisch keine Annäherung, im Gegenteil: Die HDP hat angekündigt, in den kommenden Tagen im Westen der Türkei mit Demonstrationen und Großveranstaltungen ihrer Forderung nach Autonomie für die kurdischen Gebiete im Südosten zu unterstreichen. Am vergangenen Sonntag hielt der HDP-Ko-Chef Demirtas in Diyarbakir eine Rede, in welcher er die bisher meist von radikalen Kurden geforderte Autonomie unterstütze. Damit näherte er sich der Forderungen der PKK an.

Ermittlungen gegen Demirtas und Yüksekdag

Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat anschließend laut Medienberichten die Staatsanwaltschaft in Diyarbakir damit beauftragt, Ermittlungen gegen Demirtas aufzunehmen. “Diese Forderung verstößt gegen die Verfassung” sagte er. Auch gegen die zweite HDP Ko-Chefin, Figen Yüksekdag, laufen Ermittlungen – beide sollen ihre parlamentarische Immunität verlieren. Der HDP-Abgeordnete Sirri Süreyya Önder sagte schon mehrfach in türkischen Medien, dass die HDP-Politiker mit Haftstrafen rechnen würden. “Sollen sie es tun. Eine andere Frage ist, ob das hilft, das Land aus dem gegenwärtigen Alptraum herauszuführen”, sagte Önder.

Militär geht im Südosten gegen kurdische Rebellen vor

Unterdessen geht das Militär mit uneingeschränkter Härte im Südosten gegen kurdische Rebellen vor. Immer öfter geraten auch Zivilisten in die Schusslinie. So wurde in der Nacht von Sonntag auf Montag eine Frau in der Altstadt von Diyarbakir während des Frühstücks in ihrem Haus von einer Granate getroffen und getötet. Bilder, die für die Istanbuler Kurden Arik und Celik auch aus der Ferne nur schwer zu ertragen sind.

“Wir sind damals genau vor dieser sinnlosen Gewalt geflohen”, sagt Arik. “Jetzt ist alles wie früher.” Celik nickt, auch er fürchtet, dass die Auseinandersetzungen noch lange so weitergehen können. “Wenn nicht bald eine Seite einlenkt, dann wird der Terror auch uns hier im Westen erreichen”, ist er sich sicher.

(APA)

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