In Diyarbakir, der größten Stadt der Kurdenregion, lieferten sich kurdische Demonstranten heftige Straßenschlachten mit der Polizei. Die laut Behörden von den PKK-Kurdenrebellen gesteuerten Kundgebungsteilnehmer warfen Steine und Molotow-Cocktails, errichteten Straßensperren und riefen PKK-Parolen.
In vorderster Reihe der Unruhen standen der Justiz zufolge keine hartgesottene Aktivisten der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), sondern Schulkinder. Sechs von ihnen, gerade einmal 13 und 14 Jahre alt, sollen dafür nun laut Anklage ins Gefängnis – und zwar jeweils mehr als zwanzig Jahre lang. Der Prozess gegen die Kinder, die rund eineinhalb Monate nach ihrer Festnahme für die Dauer des Verfahrens auf freien Fuß gesetzt wurden, soll in diesem Monat fortgesetzt werden. Nach Zeitungsberichten argumentiert die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklageschrift, den Kindern sei bewusst gewesen, dass sie Straftaten verübten.
Zwar gelten auch in der Türkei für Minderjährige besondere Strafvorschriften. Der türkische Berufungsgerichtshof stellte aber erst im vergangenen Jahr in einem Grundsatzurteil klar, dass jeder, der einem PKK-Aufruf zur Teilnahme an einer Demonstration folgt, rechtlich als PKK-Mitglied gilt, auch Kinder. Für die sechs Grundschüler von Diyarbakir bedeutet dies, dass sie allein jeweils zehn Jahre wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung ins Gefängnis sollen.
Der Prozess von Diyarbakir ist kein Einzelfall. Vor wenigen Wochen verurteilte ein Gericht im südtürkischen Adana zwei 16-jährige Burschen zu jeweils mehr als zehn Jahren Haft. Auch sie hatten an einer Demonstration teilgenommen, hinter der den Behörden zufolge die PKK stand. Ihr Anwalt Vedat Özkan spricht von einem Unrechtsurteil. “Die beiden haben überhaupt nichts getan”, sagte er. Die beiden Kinder seien von der Polizei zu Hause abgeholt worden; die Beamten hätten ausgesagt, sie bei der Demo gesehen zu haben. “Außer den Aussagen der Polizisten gab es keine Beweismittel”, sagte Özkan.
Für Ethem Acikalin, den Chef der Vertretung der Menschenrechtsorganisation IHD in Adana, ist das Urteil gegen die Teenager “eine Schande”. Die Gerichte sehen die drakonischen Strafen gegen Kinder seiner Meinung nach als Mittel der Abschreckung. “Aber Kinder ins Gefängnis zu stecken, sollte immer nur das letzte Mittel sein.” Nach IHD-Angaben wurden allein in Adana im vergangenen Jahr 16 Minderjährige im Alter zwischen 14 und 17 Jahren wegen Straftaten im Zusammenhang mit der PKK zu insgesamt fast 40 Jahren Haft verurteilt.
Die Regierung wirft der PKK vor, Kinder für ihre Zwecke zu missbrauchen. Minderjährige würden an die Spitze von Demonstrationszügen gesetzt, um der Polizei das Einschreiten zu erschweren. Erdogan selbst sagte nach den Ausschreitungen während seines Besuches im vergangenen Herbst, die PKK sei inzwischen in einer solchen Panik, dass sie sich “hinter sechs- und siebenjährigen Kindern versteckt”.
Der Vorwurf ist möglicherweise berechtigt. Doch Kritiker sagen, das Vorgehen des Staates gegen die Kinder sei ungerecht. Kinder in diesem Alter könnten sich unmöglich über die Ziele einer Organisation wie der PKK im Klaren sein, erklärte Acikalins Menschenrechtsgruppe. Nur die Hälfte der 81 türkischen Provinzen verfügen über Jugendgerichte, obwohl diese gesetzlich für jede Provinz vorgeschrieben sind, stellte die EU in ihrem jüngsten Fortschrittsbericht zum Beitrittskandidaten Türkei fest. Dies sei “nicht ausreichend”.
Immerhin sitzen die beiden in Adana verurteilten Teenager in einem Jugendgefängnis, die es ebenfalls längst nicht überall gibt. Anwalt Özkan will gegen das Urteil in die Berufung gehen. Die letzte Hoffnung für seine Mandanten ruht, wie in vielen solcher Fälle, auf dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg, an dessen Urteil die Türkei als Mitglied des Europarats gebunden ist.
Die Rechtsprechung aus Straßburg ist eindeutig. Erst in der vergangenen Woche verurteilte das Europa-Gericht die Türkei wegen ihres Vorgehens gegen einen minderjährigen Häftling. Der damals 15-jährige Oktay Güvec war 1995 wegen angeblicher PKK-Mitgliedschaft fünf Jahre lang inhaftiert worden. Die Türkei habe mit der Behandlung von Güvec die eigenen Gesetze und ihre internationalen Verpflichtungen verletzt, urteilten die Straßburger Richter. Nun muss Ankara dem ehemaligen Häftling 45.000 Euro zahlen.