AA

Türkei wirft demokratische Fortschritte über Bord"

Wenn die türkische Armee öffentlich Überlegungen über das Verhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit anstellt, dann schwant Menschenrechtlern am Bosporus nichts Gutes. So ist es auch jetzt wieder.

Wir glauben, dass es eine Balance zwischen Sicherheitsbedürfnissen und Menschenrechten geben muss”, sagt der stellvertretende Generalstabschef Hasan Igsiz.

Für die Armee sind Militäroperationen gegen die PKK-Kurdenrebellen im Norden des Irak, wie sie am Mittwoch (ab 14.00 Uhr MESZ) vom türkischen Parlament für ein weiteres Jahr verlängert werden sollte, nicht genug. Die Militärs verlangen zusätzliche Befugnisse bei der Terrorbekämpfung im Inland. Die Regierung ist offenbar bereit, bei einem Treffen an diesem Donnerstag auf die Forderungen einzugehen, obwohl damit einige EU-Reformgesetze der Türkei außer Kraft gesetzt würden. Menschenrechtler sind entsetzt.

Nach dem Tod von 17 türkischen Soldaten beim jüngsten PKK-Angriff auf einen Armeeposten in Südostanatolien am vergangenen Freitag bestand kein Zweifel mehr daran, dass das Parlament in Ankara das Irak-Mandat der Armee verlängern würde. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan deutete bereits neue Militäraktionen jenseits der Grenze an: “Ein möglicher Einsatz wird sich nur gegen die Terrororganisation richten”, sagte er mit Blick auf die PKK. Selbst die Einrichtung einer “Sicherheitszone” auf irakischem Boden mit permanenten türkischen Stützpunkten ist laut Zeitungsberichten im Gespräch. Im Parlament wollte nur die Kurdenpartei DTP gegen den Antrag stimmen.

Dass die bisherigen Irak-Einsätze der Armee, die zuletzt im Februar mehrere tausend Soldaten ins Nachbarland geschickt hatte, der PKK keinen nachhaltigen Schaden zufügen konnten, tut aus Sicht von Regierung und Armee nichts zur Sache. Ohne das Recht auf grenzüberschreitende Aktionen sei den Kurdenrebellen, die sich im Nordirak verschanzt haben, nicht beizukommen, lautet das Argument.

Ähnlich verläuft die Debatte bei der Forderung der Armee nach mehr Machtbefugnissen. Polizei und Militär klagen schon seit langem darüber, dass rechtsstaatliche Garantien für Beschuldigte den Kampf gegen den Terror behinderten. Im Rahmen ihrer EU-Bewerbung hatte die Türkei in den vergangenen Jahren unter anderem bei Festnahmen für die Betroffenen den Zugang zu Anwälten erleichtert. Hausdurchsuchungen dürfen nur noch mit richterlicher oder staatsanwaltschaftlicher Genehmigung beginnen. All das binde den Sicherheitskräften die Hände, sagt der Generalstab. An diesem Donnerstag will die Armee bei einer Sitzung des Hohen Rats für die Terrorbekämpfung, eines Gremiums aus Regierung, Militär, Polizei und Geheimdiensten, Vorschläge für eine Verschärfung der Gesetze vorlegen. Unter anderem fordert die Armee das Recht, ganze Landstriche abzuriegeln, wenn sie es für nötig hält.

Viele Beobachter fühlen sich an die Zeiten des Kriegsrechts erinnert, das fast zwei Jahrzehnte lang im Kurdengebiet in Kraft war und erst 2002 aufgehoben wurde. Eine Verwirklichung der Armee-Forderung “würde der Demokratisierung nicht nur Schaden zufügen, sie würde ein Zwangssystem einführen”, sagt Yavuz Önen, der Chef der türkischen Menschenrechtsstiftung TIHV. Armee und Polizei versuchen laut Önen, die öffentliche Empörung nach dem jüngsten PKK-Überfall für ihre Zwecke auszunutzen. “In dramatischen Momenten wie diesem machen sie Druck, um (demokratische) Fortschritte wieder einzukassieren.”

Möglicherweise hat diese Taktik Erfolg. Erdogan betonte zwar, seine Regierung werde keinen demokratischen Rückschritten zustimmen, doch fast im selben Atemzug unterstrich der Premier auch, seine Regierung habe der Armee noch immer gegeben, was sie gefordert habe. “Die Regierung wird tun, was die Armee sagt”, meint auch die Rechtsanwältin Eren Keskin, die prominenteste Gegnerin der Militärs in der Türkei. “In der Kurdenpolitik hat sich die Regierung vollkommen den Militärs ergeben.”

Nicht weniger, sondern mehr Demokratie wäre nach Ansicht von Önen nötig, um den Kurdenkonflikt beizulegen. Unter anderem müsste der türkische Staat akzeptieren, dass die Kurden ihre eigene Kultur hätten. Auch Rechtsexperten bezweifeln, dass kriegsrechtsähnliche Vollmachten viel nützen werden. Selbst in den Zeiten des Kriegsrechtes in Südostanatolien habe es spektakuläre Angriffe der PKK gegeben, sagte der Rechtswissenschaftler Mustafa Sentop von der Marmara-Universität in Istanbul der Zeitung “Zaman”.

  • VIENNA.AT
  • Politik
  • Türkei wirft demokratische Fortschritte über Bord"
  • Kommentare
    Kommentare
    Grund der Meldung
    • Werbung
    • Verstoß gegen Nutzungsbedingungen
    • Persönliche Daten veröffentlicht
    Noch 1000 Zeichen