Nach wie vor gebe es deutliche Defizite bei der Ausübung der Religionsfreiheit, sagte der Leiter des Kommissariats der deutschen Bischöfe (Vertretung der Bischofskonferenz bei der Berliner Bundesregierung), Prälat Karl Jüsten, laut Kathpress. Ankara müsse die individuelle Freiheit der Gläubigen respektieren, aber auch die institutionelle Freiheit der Religionsgemeinschaften ermöglichen. Dazu zähle auch der Schutz der christlichen Geistlichen.
Die großen christlichen Kirchen müssten auch eine eigene Rechtspersönlichkeit erhalten, betonte der Prälat. Sonst hätten sie keine Möglichkeit, sich ausreichend zu organisieren, selber Besitz zu erwerben, Gotteshäuser zu errichten und damit wesentliche Rahmenbedingungen für die Seelsorge zu schaffen (in der „Tanzimat“-Periode gegen Ende des Osmanischen Reiches waren diese Bedingungen weithin gegeben). Jüsten forderte die Verhandlungsführer Brüssels auf, sich für eine umfassende Religionsfreiheit in der Türkei einzusetzen. So lange der türkische Staat diese Möglichkeiten nicht festschreibe, erfülle er keinesfalls die Voraussetzungen für eine Aufnahme in die EU. Ankara müsse sich beim Umgang mit den Religionsgemeinschaften an EU-Normen halten.
Jüsten hatte Ende vergangener Woche CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla begleitet, der das Thema Religionsfreiheit in Ankara und Istanbul thematisierte. Ausdrücklich dankte Jüsten dem CDU-Politiker für die klare Linie, die Pofalla bei seinen Gesprächen eingehalten habe. Auch der deutsche Kurienkardinal Walter Kasper hatte von der Regierung in Ankara im Hinblick auf den geplanten Türkei-Besuch von Papst Benedikt XVI. mehr Freiraum für die christlichen Kirchen gefordert. Diese hätten in der Türkei nicht einmal das Recht, Eigentum zu haben, kritisierte der Präsident des Päpstlichen Rates für die Einheit der Christen. Gerade weil die Türkei in die EU wolle, müsse sie auch Religionsfreiheiten zugestehen.
Der Papst wird die Türkei vom 28. November bis 1. Dezember besuchen. In diesen Zeitraum fällt das Fest des Heiligen Andreas. Der im Phanar in Istanbul residierende Ökumenische Patriarch Bartholomaios I., das Oberhaupt der orthodoxen Christenheit, wollte das Fest schon im vergangenen Jahr gemeinsam mit dem Papst feiern. Doch die türkische Regierung lehnte damals ab und sprach ihre Einladung erst für 2006 aus. Als Staatsoberhaupt muss der Papst zuerst nach Ankara reisen.
Der Heilige Andreas, leiblicher Bruder des ersten Papstes Petrus, gilt als Gründer des Patriarchats von Konstantinopel, Bartholomaios als sein 270. Nachfolger. Es wird dies der dritte Besuch eines Papstes im Zentrum der Weltorthodoxie sein: Paul VI. besuchte 1967 Patriarch Athenagoras I., nachdem sie gemeinsam den gegenseitigen Bannfluch von 1054 aufgehoben hatten, der zur Kirchenspaltung geführt hatte. 1979 war Johannes Paul II. Gast von Dimitrios I., dem 1991 verstorbenen Vorgänger von Bartholomaios.
Die Türkei müsse noch „manches nachlegen“, um ein Grundrecht wie die Religionsfreiheit zu gewährleisten, sagte Kasper. So könne der Ökumenische Patriarch seit Jahrzehnten keine Hochschule für die Ausbildung des eigenen Klerus unterhalten. „Religionsfreiheit betrifft nicht nur die Freiheit des Einzelnen, sondern ist auch ein institutionelles Recht“, betonte der Kurienkardinal.
Die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland hatten sich gegen die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union unter den derzeitigen Voraussetzungen ausgesprochen. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, Bischof Wolfgang Huber von Berlin-Brandenburg, und der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, hatten betont, dass es für Christen in der Türkei keine Religionsfreiheit gebe. Die christlichen Kirchen existierten im rechtsfreien Raum. Die EU-Kommission hatte die Türkei wiederholt aufgefordert, die Lage der nicht-muslimischen Bevölkerungsgruppen zu verbessern. Ankara verhandelt mit der EU seit vergangenem Oktober über einen Beitritt.