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Terroranschlag in Wien: Bericht zeigt Fehler im Verfassungsschutz

Das BVT wusste von der Gefährlichkeit des Attentäters.
Das BVT wusste von der Gefährlichkeit des Attentäters. ©APA/HANS PUNZ
Die Untersuchungskommission des Terroranschlags in Wien stellt dem BVT ein schlechtes Zeugnis aus. Es seien Fehler bei der Risikobewertung des Täters, der Datenverarbeitung und beim Informationsfluss passiert.
SPÖ wollen BVT neu aufziehen

Am Mittwoch hat die Untersuchungskommission zur Klärung von allfälligen Pannen und Versäumnissen im Vorfeld des Terror-Anschlags vom 2. November in der Wiener Innenstadt ihren Abschlussbericht vorgelegt. Das Gremium unter Vorsitz der Wiener Strafrechtlerin Ingeborg Zerbes zeigt darin vor allem Mängel aufseiten des Verfassungsschutzes auf, etwa beim Risikobewertungsprogramm für Gefährder, bei der Datenverarbeitung und dem Informationsfluss zwischen den einzelnen Behörden.

BVT soll reformiert werden

Explizit spricht sich die Zerbes-Kommission dafür aus, dass die Zuständigkeitsverteilung zwischen dem Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) und den entsprechenden Behörden in den Ländern "überdacht und klarer gestaltet" wird. Zum BVT heißt es in dem Bericht wörtlich: "Die stets angekündigte Neustrukturierung des BVT sollte nun ohne weitere Verzögerungen und transparent durchgeführt werden." Die "Reform des BVT" sei "zügig abzuschließen".

"Ich bin froh, dass die Untersuchungskommission so rasch und konsequent gearbeitet hat, dass bereits circa drei Monate nach dem Terroranschlag ein umfassender Bericht vorliegt", dankte Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) in einer ersten Reaktion der Zerbes-Kommission. Es sei ihm von Beginn an wichtig gewesen, "dass die Vorgänge im Vorfeld des Terroranschlages offen, transparent und unabhängig durchleuchtet werden", meinte Nehammer in einer der APA übermittelten Stellungnahme. Eins zeige sich bereits nach einer ersten Sichtung des Berichts: "Der Verfassungsschutz muss rasch auf völlig neue Beine gestellt werden. Daran arbeiten wir gerade mit aller Kraft."

BVT als parteipolitische Spielwiese

In Vertretung der in ihrer Babypause befindlichen Justizministerin Alma Zadic (Grüne) bemerkte Vizekanzler Werner Kogler: "Wie bereits der Zwischenbericht der Untersuchungskommission zeigt auch der Endbericht auf, dass die Bediensteten der Justiz korrekt, 'gesetzmäßig' und 'sinnvoll' gehandelt haben." Es brauche nun "angesichts des im Kommissionsbericht festgestellten Versagens des Verfassungsschutzes" eine "Neuaufstellung des BVT an Haupt und Gliedern". Kogler forderte "ein unabhängiges, professionelles BVT mit den besten Köpfen und eine echte Kontrolle durch das Parlament, wie das auch überall anders in Europa längst üblich ist". Es müsse durch strukturelle Rahmenbedingungen sichergestellt sein, "dass diese Behörde keine parteipolitische Spielwiese mehr ist. Es geht um nichts weniger als die Sicherheit in diesem Land".

Bereits der kurz vor Weihnachten vorgelegte Zwischenbericht der Zerbes-Kommission hatte schwere Versäumnisse im Umgang mit dem späteren Attentäter aufgezeigt, der am 2. November in der Innenstadt vier Passanten erschossen hat. Nach der vorzeitigen bedingten Entlassung des wegen terroristischer Vereinigung verurteilten Mannes war er gleichermaßen vom Schirm des Verfassungsschutzes wie der Justiz verschwunden. Die Kommunikation zwischen dem BVT und dem Wiener Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (LVT) funktionierte nicht. Weder wurden von den Behörden eine Gefährdungseinschätzung des späteren Attentäters noch allfällige Gegenmaßnahmen besprochen, sodass sich der IS-Anhänger Mitte Juli 2020 in Wien mit radikalislamistischen Gleichgesinnten aus Deutschland und der Schweiz treffen und wenig später zu einem versuchten Munitionskauf nach Bratislava begeben konnte, ohne dass zeitnahe das von ihm ausgehende Risiko hochgestuft wurde. Das zu gemächliche Agieren, was das Risikopotenzial des jungen IS-Anhängers betraf, und fehlende Informationsweitergabe, speziell an die Staatsanwaltschaft und übergeordnete Stellen wurden im Abschlussbericht noch deutlicher herausgearbeitet.

Islamisten-Treffen nicht berichtet

Demnach wäre die Meldepraxis des BVT an die Generaldirektion für die Öffentliche Sicherheit verbesserungswürdig. Operative Lagebilder bezüglich islamistischem Extremismus und Terrorismus für die Monate Juli bis Oktober 2020 habe man der Kommission nicht vorlegen können. Ein Lagebild zu Foreign Terrorist Fighters, wozu auch der spätere Attentäter zu rechnen war, habe nur bezogen auf 2019 existiert. Aus Sicht der Kommission ergibt sich daraus, dass der Informationsfluss vom BVT zur Generaldirektion für die Öffentliche Sicherheit von 2019 auf 2020 "deutlich verdünnt worden sein muss, obwohl das Phänomen der 'Foreign Terrorist Fighters' und die von diesen ausgehenden Gefahren in diesem Zeitraum keineswegs zurückgegangen sind". Die Kommission bemängelt auch, dass das vom Staatsschutz observierte Islamisten-Treffen in der Bundeshauptstadt offenbar nicht an die Generaldirektion berichtet wurde, obwohl das "über die in Österreich (...) vorliegende Gefahrenlage wohl mehr aussagt (...)."

Insgesamt habe der Kommunikationsfluss Richtung Generaldirektion für die Untersuchungskommission "nicht vollständig nachvollzogen werden" können: "Das, was der Kommission darüber preisgegeben wurde, erscheint verbesserungswürdig, wobei hier die jeweiligen Behördenleiter in besonderer Verantwortung stehen."

Der Informationsfluss zum Innenminister baue auf dem Informationsstand des Generaldirektors für die Öffentliche Sicherheit auf, so die Feststellungen der Zerbes-Kommission. Letzterer berichte dem Kabinettschef und dieser - "inhaltlich weiter verdichtet" - dem Minister. Nach Angaben des Kabinettschefs gebe es dazu keine schriftlichen Unterlagen und komme es zu keinen direkten Meldungen - etwa aus dem BVT - an den Minister. Nachfragen der Kommission, ob abgesehen von der vorgenommen Abschiebung eines radikalislamistischen deutschen Gefährders, die auch dem Generalsekretariat im Innenministerium gemeldet worden war, weitere Einzelinformationen zu terroristischen Gefahren "nach oben gemeldet wurden, wurde nicht abschließend beantwortet", ist dem Abschlussbericht der Untersuchungskommission zu entnehmen.

Risikobewertung dauerte zehn Monate

Die Kommission bemängelt in Bezug auf ein computergestütztes Risikobewertungsprogramm für mögliche terroristische Straftäter einen zu technokratischen, formalistischen Umgang. Die "Ersteinschätzung" beim späteren Attentäter sei erst nach zehn Monaten abgeschlossen gewesen, eine "Zusammenschau" war für Mitte November und somit zwei Wochen nach dem Attentat geplant.

Dass die einzelnen LVT und das BVT nicht in die Daten der grundsätzlich für dieselbe Materien zuständigen Behörden auf Landes- oder Bundesebene Einschau nehmen können, sondern Aktenstücke speziell anfordern müssen, hält die Zerbes-Kommission für problematisch. Dies führe "zwingend zu Verzögerungen". "Noch problematischer" sei eine fehlende Schnittstelle bei Gefährdungseinschätzungen, sodass nicht davon ausgegangen werden könne, dass diese sich auf einem aktuellen Stand befindet.

Ausbildung der Mitarbeiter "suboptimal"

Die Zerbes-Kommission macht auch darauf aufmerksam, dass sich bei der Rekonstruktion der Abläufe gezeigt habe, dass die Ausbildung der mit der Risikobewertung betraute Personen "suboptimal gewesen sein dürfte, als manche lieber im praktischen Einsatz auf der Straße arbeiteten. Das könnte zu mangelndem Engagement, Qualitätsproblemen und Verzögerungen bei der Arbeit beigetragen haben". Grundsätzlich habe im BVT - nicht zuletzt aufgrund einer rechtswidrig vorgenommenen Hausdurchsuchung im Jahr 2018, negativer Medienberichte, Anklagen gegen Mitarbeiter und einer "restriktiv gehaltenen Nachbesetzungspolitik" ein zerrüttetes Arbeitsklima geherrscht. "Der Kommission wird von einem Klima des Misstrauens und von unbewältigten Konflikten berichtet", heißt es im Abschlussbericht.

Die Kommission empfiehlt daher eine bessere technische Ausstattung für die Risikobewertung mit einem effizienten Analyse- und Informationsverarbeitungssystem eine gemeinsame, für alle Dienststellen nutzbare einheitliche Datenbank, eine professionalisierte Analysekompetenz und eine klarere Fach- und Dienstaufsicht über die Verfassungsschutzbehörden in den Ländern.

Kritik von der Opposition

Die SPÖ verlangte "eine sofortige und lückenlose Aufklärung darüber, welche Informationen Minister Nehammer und der Generaldirektor für öffentliche Sicherheit im Vorfeld des Anschlags bereits hatten". Sicherheitssprecher Reinhold Einwallner und Wehrsprecher Robert Laimer verlangten in einer Presseaussendung außerdem "eine Neuaufstellung der Sicherheitsarchitektur Österreich". Dass die Kommission in ihrer Aufklärungsarbeit "offenbar behindert wurde", sei "ein absoluter Skandal und muss Konsequenzen haben".

Die Zerbes-Kommission habe "den desaströsen Zustand des Staatsschutzes" aufgezeigt, bemerkten NEOS. Verteidigungssprecher Douglas Hoyos und Sicherheitssprecherin Stephanie Krisper orteten in einer Aussendung "Gefahr in Verzug". Was es nun brauche sei "eine radikale Neuaufstellung des Verfassungsschutzes, unter Einführung einer rigorosen parlamentarischen Kontrolle".

Der Endbericht belege, dass der Staatsschutz "blind, taub und unfähig" gewesen sei, dafür trage die ÖVP die Verantwortung. Innenminister Nehammer gehe es nur "um Vertuschung", er müsse daher seinen Platz räumen.

Bericht für ÖVP "Erfrischend iffen"

In dasselbe Horn tönte die FPÖ. "Entweder hat die Spitze des Innenministeriums, wie von einem Medium behauptet, die erhaltenen Unterlagen über die Gefährlichkeit des späteren Terroristen und seiner Zelle unterdrückt oder es hat diese Akten tatsächlich nicht gegeben. Beides wäre unentschuldbar und der Innenminister angesichts dieser Fehlleistungen in seinem Haus nicht tragbar", meinte Sicherheitssprecher Hannes Amesbauer in einer Presseaussendung.

ÖVP-Sicherheitssprecher Karl Mahrer stellte gegenüber der APA in Aussicht, dass der Bericht in den kommenden Tagen im Geheimdienst-Unterausschuss des Nationalrats beraten werden soll. Den Kommissionsbericht bezeichnete er als "erfrischend offen". Er liefere eine "schonungslose Aufzeichnung von möglichen Mängeln", speziell was die Kommunikation zwischen den verschiedenen Organisationseinheiten betreffe. Es gelte nun, daraus zu lernen und Verbesserungspotenzial abzulesen. Mahrer will bei der BVT-Reform die Opposition einbinden, um eine möglichst breite Mehrheit zu schaffen, wie er betonte.

Opfervertreter mahnt Entschädigungsfonds ein

Im Zusammenhang mit dem Terror-Anschlag in Wien, der am 2. November vier Passanten das Leben gekostet hat, hat am Mittwoch der WienerRechtsanwalt Karl Newole von der Regierung die Einrichtung eines Entschädigungsfonds verlangt. Bisher hätten Hinterbliebene bzw. Verletzte von staatlicher Seite "Zahlungen erhalten, die den Namen Entschädigung nicht verdienen", führte Newole, der derzeit 16 Terror-Opfer vertritt, in einer Aussendung ins Treffen.

Der Endbericht der Zerbes-Kommission lege "gravierendes Behördenversagen im Vorfeld des Anschlags" offen und verdiene Respekt, "hilft aber den Opfern nicht", so Newole. Von den Verletzten hätten bisher die meisten 2.000, ein Betroffener 4.000 Euro, andere noch nichts erhalten. Newole hält einen mit 1,5 Millionen Euro dotieren Entschädigungsfonds für "angemessen", um die Ansprüche der Verletzten abzugelten. Wenn sich die Regierung weiterhin nicht bewege, "müssen wir Amtshaftungsklagen einbringen", stellte Newole fest.

Zerbes: "Wir waren keine Feigenblatt-Kommission"

"Das Erstaunlichste, was wir festgestellt haben, ist, dass es keinen effizienten, professionellen Datenaustausch zwischen den einzelnen Behörden gibt, die für den Staatsschutz verantwortlich sind", meinte Ingeborg Zerbes, die Vorsitzende der Untersuchungskommission zum Anschlag vom 2. November. Zerbes betonte, die Kommission sei bei ihrer Arbeit nicht von der Politik gebremst worden: "Wir haben nicht 'von oben' einen Maulkorb bekommen. Wir waren keine Feigenblatt-Kommission.".

Am Ende habe sich gezeigt, dass es in Bezug auf den 20-jährigen Attentäter aufseiten des Staatsschutzes vor allem im operativen Bereich "Fehlverhalten" gegeben habe. Es gebe allerdings "keine Person, auf die sich eine Verantwortung zugespitzt hätte". Es sei kein individuell-schuldhaftes, in strafrechtlicher Hinsicht zu ahndendes Verhalten nachweisbar. Es lasse sich aber nach wie vor nicht sagen, dass eine bestimmte Maßnahme, die unterlassen wurde, den Anschlag hätte verhindern können.

Dass der Informationstausch zwischen dem BVT und dem Wiener LVT über den späteren Attentäter nicht funktioniert hat und zehn Monate bis zur Fertigstellung einer "Ersteinschätzung" hinsichtlich des verurteilten, vorzeitig bedingten entlassenen 20-Jährigen verstrichen, war für Zerbes bemerkenswert: "Der Staatsschutz ist in diesem Bereich nicht professionalisiert." Die Hürden, die einem behördenübergreifenden Datenaustausch im Weg stehen, sind für Zerbes nicht mehr zeitgemäß: "Es hätte längst ein Datenverarbeitungs- und Analysesystem eingerichtet werden müssen, auf das alle am Staatsschutz beteiligten Dienststellen zugreifen können und aus dem sich verlässlich der aktuelle Informationsstand über den betreffenden Gefährder ergibt."

Offen blieb für Zerbes der Informationsfluss über den späteren Attentäter von den damit befassten Dienststellen zur Weisungsspitze, dem Generaldirektor für die Öffentliche Sicherheit, "der offenbar nicht optimal war". In diesem Zusammenhang bekräftigte die Kommissions-Vorsitzende: "Die Meldepraxis an den Generaldirektor konnte nicht restlos aufgeklärt werden."

Zerbes in Bezug auf die Justiz

In Bezug auf die Justiz müsse zukünftig vor der bedingten Entlassung extremistischer Straftäter aus einer Haftstrafe gewährleistet sein, dass "alle Informationen, die bis dahin über den Täter aus seiner Tat, aber auch aus dem Vollzug vorliegen" dem Gericht zur Verfügung gestellt werden, das über die bedingte Entlassung entscheidet. Justizwachebeamte, Bewährungshelfer und Mitarbeiter von Deradikalisierungsvereinen, die mit einem Gefährder im Vollzug zu tun hatten, sollten ihr jeweiliges Wissen "zusammentragen, um dem Gericht zu ermöglichen, in konkreten Fall die richtigen Weisungen zu erteilen", sagte Zerbes. Derartige einer Haftentlassung vorausgehende Fallkonferenzen - unter Einbeziehung von Beamten des jeweils zuständigen LVT - könnten ein von Gefährdern ausgehendes Risiko "zwar nicht ausschließen, aber herabsetzen".

(APA/Red)

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