Tagung in Wien widmet sich Kinderstube der Entwicklungspsychologie
Vor 90 Jahren begann Charlotte Bühler (1893-1974) an der Uni Wien mit ihrer Forschung, die Wien zu einem Zentrum der Entwicklungspsychologie machte. Mit ihrer Vertreibung 1938 verlor der Forschungszweig aber jegliche Bedeutung. Erst ab den 1970er-Jahren wendete sich Blatt langsam wieder.
Tagung der Entwicklungspsychologie in Wien
Anfang der 1920er-Jahre wendete sich die Wiener Politik sehr stark den vielen sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen zu. “Auswärtige Wissenschafter bezeichneten Wien damals als die ‘Hauptstadt des Kindes'”, sagte Lieselotte Ahnert von der Fakultät für Psychologie der Universität Wien gegenüber der APA. Genau in diese Zeit fiel die Gründung der entwicklungspsychologischen Abteilung unter dem Namen “Wiener Kinderpsychologische Schule” durch die aus Berlin stammende Charlotte Bühler.
In dieser “Atmosphäre der Kinderorientiertheit” gelang es Bühler, der 1923 die Lehrberechtigung an der Uni Wien übertragen wurde, eine Abteilung aufzubauen, die damals als das “Mekka der Kinderpsychologie” galt, wie es Ahnert ausdrückt. Bis dahin fehlte der Forschung, die sich mit der Entwicklung des Menschen von der frühesten Kindheit bis hin zum Erwachsenenalter beschäftigte, die methodische Systematik und der theoretische Unterbau. Ab Bühler “arbeitete man nicht mehr im Gelehrtenstübchen, sondern man fing an, empirische Forschung nach heutigem Maßstab zu machen. Bühler hat das Kind in den Mittelpunkt gestellt und versucht herauszufinden, wie man Entwicklung wirklich messbar macht”, so die Psychologin.
Gesichte Wiens durchleuchtet
Die Forscherin und ihre Kollegen entwickelten Methoden zur systematischen Verhaltensbeobachtung und etablierten Tests, mit denen der Entwicklungsstand der Kinder abgeschätzt werden konnte. “Mit diesen Tests arbeiten wir zum Teil heute noch, bzw. war das definitiv die Grundlage für moderne Testverfahren – das war der Türöffner”, so die Forscherin. Aufgrund von Aussagen früherer Mitarbeiter Bühlers werde auch klar, dass ihr die Tragweite ihrer entwicklungsdiagnostischen Tätigkeit für das zukünftige Leben der Kinder und Jugendlichen und die gesellschaftliche Bedeutung ihrer Arbeit immer bewusst war.
Bei der Machtübernahme der Nazis in Österreich war Bühler glücklicherweise gerade im Ausland. Die Nationalsozialisten legten ihrem Mann, dem renommieren Psychologen Karl Bühler, nahe, sich von seiner aus einer jüdischen Familie stammenden Frau zu trennen. Gemeinsam floh die Familie über Oslo und London in die USA, wo sie sich die Bühlers wissenschaftlich jedoch nicht mehr so gut etablieren konnten. Trotzdem schlugen sie ein Angebot zur Rückkehr nach Österreich nach dem Krieg aus.
Charlotte Bühler Festsymposium in Wien
Wie viele andere Forschungsgebiete in Wien verfiel auch die Entwicklungspsychologie nach dem “Anschluss” in eine Art “Schockstarre”, erklärte Ahnert. Nach dem Krieg sei die Forschung nur sehr schleppend wieder angelaufen. Erst ab den 1970er-Jahren ging es wieder bergauf. Seit einigen Jahren werde die einschlägige Forschung auch wieder international wahrgenommen.
Das bis Samstag laufende “Charlotte Bühler Festsymposium soll nun in Verbindung mit der historischen Bedeutung vor allem aktuelle internationale Forschung mit Fokus auf aktuelle Wiener Beiträge darstellen, so die Wissenschafterin, die den Arbeitsbereich nun seit fünf Jahren leitet. So orientieren sich auch die großen Themen der Tagung an Forschungsschwerpunkten an der Uni Wien, wie Beziehungen und Bindungen, Stress, Trauma und Vaterschaft. Gerade das Thema Vaterschaft sei lange ein blinder Fleck gewesen, nun leiten die Wiener Wissenschafter ein großes internationales Forschungsprojekt. Ahnert: “Wir sind gut aufgestellt und wieder angefragt. Ob wir irgendwann wieder das ‘Mekka’ werden, wage ich jetzt einmal zu bezweifeln, aber wir mischen wieder mit.”
(APA)