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Srebrenica: "Man geht von mehr als 8000 Opfern aus"

Das Massaker von Srebrenica zählt zu den größten Kriegsverbrechen der Neuzeit.
Das Massaker von Srebrenica zählt zu den größten Kriegsverbrechen der Neuzeit. ©AFP
30 Jahre Jugoslawienkrieg: Im zweiten Teil des VOL.AT-Interviews gewährt der Bregenzer Historiker und Slawist Elmar Hasovic Einblick in das wohl größte Verbrechen des gesamten Kriegsverlaufs.
30 Jahre Jugoslawienkrieg: Teil 1

VOL.AT: Vor 26 Jahren fand mit dem Massaker von Srebrenica der Jugoslawienkrieg einen traurigen und bestialischen Höhepunkt. Was ist damals genau passiert?

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Mag. Elmar Hasovic: Um zu verstehen, was in Srebrenica in den drei Tagen des Juli 1995 passiert ist, muss man einen Blick auf die Geschehnisse davor werfen. Auch in Bosnien brachten die ersten freien Wahlen 1990 Nationalisten an die Macht. Die Reformkommunisten verloren die Wahl gegen eine Koalition aus drei größten nationalistischen Parteien, der bosniakischen/muslimischen SDA, der serbischen SDS mit Radovan Karadzic an der Spitze, und der kroatischen HDZ. Diese drei Parteien bildeten die erste demokratisch gewählte Regierung nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Einparteiensystems. Alija Izetbegovic, Chef der größten Partei, der SDA, wurde erster Präsident des Landes.

©handout/Hasovic

Mit dem Fortschreiten des Krieges in Kroatien (dort stemmte sich die serbische Minderheit mithilfe der Jugoslawischen Volksarmee gegen die Unabhängigkeit Kroatiens, besetzte ein Drittel des Landes und rief ihrerseits einen unabhängigen Staat aus)  kam es zu immer größer werdenden Differenzen innerhalb der besagten Dreier-Koalition. Als dann Kroatiens Unabhängigkeit auch von der UN anerkannt wurde, folgte der offene Bruch. Die bosniakische SDA (Partei der Demokratischen Aktion) und die kroatische HDZ (Kroatische Demokratische Gemeinschaft) setzten sich für die Unabhängigkeit Bosniens ein. Sie wollten nicht einem von Serben dominierten "Rumpf-Jugoslawien" bleiben, während die serbische SDS (Serbische Demokratische Partei) dagegen war und einen Verbleib Bosniens bei Jugoslawien vertrat. Für die anderen kam diese Option nicht infrage, da dieses Staatenbündnis nur noch aus Serbien und Montenegro bestand. Für die damalige Europäische Gemeinschaft war die Durchführung einer Volksbefragung eine Voraussetzung für die Anerkennung der Unabhängigkeit. Die Abhaltung dieses Referendums wurde nur mit Stimmen der SDA und der HDZ beschlossen, im März 1992. Die SDS boykottierte die Volksbefragung und sabotierte die Abhaltung dieser dort wo sie eben über die nötigen Mittel dazu verfügte. Es nahmen dennoch knapp 65 Prozent aller Bürger am Referendum teil. Das umfasste den größten Teil der Bosniaken und Kroaten, und einen Teil, meist in größeren städtischen Zentren lebenden Serben. Über 95 Prozent stimmten für die Unabhängigkeit. Die SDS reagierte so wie die Serben in Kroatien zuvor: Sie rief ihrerseits eine „Serbische Republik Bosnien und Herzegowina“ aus und begann mit der ethnischen Säuberung aller nicht-Serben. Mithilfe der jugoslawischen Volksarmee eroberten somit die Streitkräfte der SDS innerhalb eines halben Jahres ca. 70 Prozent des Territoriums von Bosnien und Herzegowina. Darunter das gesamte, an Serbien angrenzende Gebiet Ostbosniens. Dort lebten hauptsächlich Bosniaken und Serben, und zwar in einem Verhältnis von 3/2. Srebrenica war neben Gorazde und Zepa eine der drei Enklaven Ostbosniens die sich halten konnte. Die Stadt hatte vor dem Krieg knapp 10.000 Einwohner. Der Zustrom der bosniakischen Flüchtlinge aus anderen Städten Ostbosniens ließ die Stadt auf bis zu 60.000 Einwohner anwachsen.

Es folgten Monate gegenseitiger Angriffe und Gegenangriffe, in dessen Rahmen beide Seiten Kriegsverbrechen verübten. Die dort lebende Bevölkerung hatte weder Strom, noch Fließendwasser. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln war dementsprechend miserabel. Die meisten hungerten. Eine serbische Offensive im Frühling 1993 führte dazu, dass die Stadt zur UN-Schutzzone erklärt wurde. Die Verteidiger gaben dabei die wenigen schweren Waffen an die UN ab. Die leichten Infanteriewaffen wurden größtenteils nicht abgeliefert. Im Juli 1995 marschierten die Truppen des serbischen Generals Ratko Mladic in Srebrenica ein. Frauen und Kinder, sowie ein Teil der männlichen Zivilbevölkerung zogen sich in das holländische UN-Lager im Vorort Potocari zurück. Das Gros der männlichen Zivilbevölkerung begab sich mit den mit leichten Infanteriewaffen bewaffneten Soldaten, auf einen etwa 80 km langen Marsch durch ein Gebiet, welches Ratko Mladic kontrollierte. Diese lange Kolonne wurde natürlich sofort beschossen und auseinandergerissen, sodass sich zwar einige Tausend bis zur Stadt Tuzla durchschlagen konnten, aber an die 6000 bis 7000 entweder gleich getötet, gefangengenommen oder zwischen dem 13. und 19. Juli erschossen wurden. Die Männer aus der UN-Basis Potocari wurden von Frauen getrennt und ebenfalls erschossen. Man geht von mehr als 8000 Opfern aus. Es gab auch Vergewaltigungen, aber größtenteils wurden die Frauen und Kleinkinder auf Busse verladen und an der Frontlinie zur bosnischen Armee gefahren.

Der ehemalige Militärchef der bosnischen Serben, Ratko Mladić, wurde wegen Völkermordes zu lebenslänglicher Haft verurteilt.  ©APA

VOL.AT: Wie geht man heute mit dieser Tat um?

Mag. Elmar Hasovic: Es kommt darauf an wer mit „man“ gemeint ist. Klar, Srebrenica wurde seitens der UN-Gerichte als Genozid klassifiziert. Und genau diese Klassifizierung scheint für einige ein Problem zu sein. Die Internationale Gemeinschaft erkennt diese Klassifizierung an, jedoch ist sie unter vielen serbischen Politikern, insbesondere unter Politikern in der bosnisch-herzegowinischen, von Serben dominierten Entität „Republika Srpska“ sehr umstritten. Diese leugnen nicht das Verbrechen per se, lediglich die Charakterisierung dessen als Genozid. Der Staat besteht ja aus zwei Entitäten, der „Republika Srpska“ und der bosniakisch-kroatischen Föderation (diese wiederum aus 10 Kantonen). Die „Entität Republika Srpska“ ging hervor aus der 1992 gegründeten, und bereits erwähnten „Serbischen Republik Bosnien und Herzegowina“– eine Namensänderung sozusagen. Die meisten Parlamente der Nachfolgestaaten Jugoslawiens haben das Massaker von Srebrenica als Genozid anerkannt – darunter eben auch Montenegro. Nur in Bosnien war das nicht der Fall, da die Politiker aus der Entität „Republika Srpska“ dagegen sind und mit ihrem Vetorecht die Verabschiedung einer dementsprechenden Deklaration verhindern.

VOL.AT: Wie wirkt sich das auf die Alltagspolitik aus?

Mag. Elmar Hasovic: Nur ein Beispiel: Bosnien befindet sich seit Anfang August dieses Jahres erneut in einer staatspolitischen Krise. Der Grund dafür ist ein Gesetz, welches der österreichische Diplomat Valentin Inzko, der in Bosnien seit 2009 das Amt des „Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina“ ausübt, noch kurz vor seiner Amtsübergabe per Dekret verabschiedet hatte. Inzko repräsentiert die Internationale Gemeinschaft in Form der Vereinten Nationen. Auch wenn der Hohe Repräsentant weitgehende Vollmachten besitzt – so kann er z.B. demokratisch gewählte Amtsträger entlassen oder neue Behörden schaffen – hatte Inzko während seiner Amtszeit im Unterschied zu seinen Vorgängern eher zurückhaltend agiert. Der Grund dafür könnte auch die mangelnde Unterstützung seitens des sogenannten Friedensimplementierungsrates gewesen sein, der sich aus Vertretern der Außenministerien von mehr als 50 Staaten zusammensetzt. Zuvor hatten insbesondere die USA stets den Hohen Repräsentanten starken Rückhalt geboten. Nun beendete Inzko seine Karriere sozusagen mit einem Knalleffekt, indem er einen Erlass verabschiedete, welcher eine strafrechtliche Ahndung der Leugnung und Verherrlichung von Kriegsverbrechen beinhaltet. Das inkludiert auch die Leugnung des Genozids in Srebrenica.

©handout/Hasovic

VOL.AT: Und wie sehen die Reaktionen darauf aus?

Mag. Elmar Hasovic: Unterschiedlich. Die bosniakische Öffentlichkeit begrüßte diesen Schritt. Inzko stieß aber mit seinem Gesetz auf starken Widerstand der serbischen Parteien aus der „Republika Srpska“. Theoretisch kann nun jeder, der den Genozid in Srebrenica leugnet, seitens der bosnischen Staatsanwaltshaft belangt werden. In der „Republika Srpska“ kam es deswegen zu einem nationalen Zusammenschuss der Regierungsparteien und der dortigen Opposition. Milorad Dodik, derzeit Vorsitzender des dreiköpfigen Staatspräsidiums Bosnien und Herzegowinas und wichtigste Politiker der „Republika Srpska“, hat vor kurzem die Polizei der „Republika Srpska“ angewiesen, „allen Bürgern der Republika Srpska“, die den Genozid leugnen, Schutz vor der Verfolgung der bosnischen Staatsbehörden zu geben (Ironischerweise hatte Dodik vor Jahren als er noch ein Oppositionspolitiker war das Massaker selbst als Genozid bezeichnet). Sollte nun die gesamtstaatliche Polizeibehörde „SIPA“ jemanden, der den Genozid leugnet, in der „Republika Srpska“ verhaften wollen, kann es sehr leicht auch zu einer bewaffneten Auseinandersetzung mit dortigen Polizeikräften kommen. Wie man sieht, ist die Situation alles andere als einfach. Fakt ist aber, dass dieses Gesetz – so gut es auch gemeint war – nicht nur zu einem „Papiertiger“ verkommen könnte, falls keine dementsprechende Unterstützung seitens der Internationalen Gemeinschaft gewährleistet wird, sondern sich sehr leicht auch als destruktiv erweisen kann, da Bosnien nicht in der Lage ist, dieses selbst zu exekutieren. Bleibt abzuwarten, wie der neue Hohe Repräsentant Christian Schmidt (aus Deutschland) mit diesem juristischen Erbe umgeht, das ihm Inzko hinterlassen hat.

Sarajevo im April 1992. ©handout/Hasovic

VOL.AT: Also sind die Gräben nach wie vor sehr tief?

Mag. Elmar Hasovic: Ja, das kann durchaus gesagt werden. Eine Veränderung von Innen wird allerdings schwer möglich sein ohne konstruktive Impulse von außen, auch wenn es immer wieder positive Beispiele des Zusammenlebens und der Zusammenarbeit unter den in Bosnien und Herzegowina lebenden Ethnien gibt: den Bosniaken (ca. 50 Prozent der Gesamtbevölkerung), den Serben (ca. 30 Prozent) und den Kroaten (ca. 15 Prozent) gibt. Leider wird seitens einiger Politiker aus allen Lagern immer wieder der Krieg aus populistischen Gründen „aufgewärmt“, was sich wiederum auf die Menschen auswirkt. Diese scheinbar endlose Spirale an gegenseitigen Beschuldigungen und der Identitätspolitik nimmt sehr viel Platz in der öffentlichen Debatte ein, sodass recht wenig Spielraum für – ich nenne sie mal so – wichtigere Themen übrig bleibt. Ich meine damit Themen, die den Lebensstandard der Bevölkerung betreffen, die Wirtschaft, aber auch Korruption etc.

30 Jahre Jugoslawienkrieg: Der dritte und abschließende Teil der VOL.AT-Serie widmet sich den Auswirkungen des Balkankonflikts auf Österreich.

(VOL.AT)

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