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Schweiz: "Schengen-Ja" war Loskauf von EU

Als "Missverständnis" bezeichnet es der Schweizer Autor Adolf Muschg, wenn das "Schengen-Votum" der Schweiz als ein "Ja" zu Europa gedeutet würde: "Es ist vielmehr ein geglückter Loskauf von der EU."

Dies sagte Muschg, der seit nunmehr zwei Jahren Präsident der Akademie der Künste in Berlin ist, im Gespräch mit der APA. „Man hat den Pelz gewaschen ohne sich nass zu machen – glaubt man.“

Er lasse sich aber das Missverständnis nicht ungern gefallen, „dass jetzt ausgerechnet aus der Schweiz ein Lichtblick auf die Europäische Union fällt“. „Die Schweizer Bürger haben erstaunlich vernünftig „Ja“ gestimmt, wie auch, und das sage ich ungern, die Franzosen nicht nur aus Unvernunft „Nein“ gestimmt haben“, sagt Muschg.

„Das Europa, das sich jetzt wahrscheinlich an seinem Wachstum überfressen hat, bedarf einer Verdauungspause, und ich dachte zuerst, in Frankreich habe man diesem Europa die Totenglocke geläutet. Inzwischen bin ich fast sicher, dass es ein in einen Fluch verpackter Segen ist, dass wir jetzt wohl oder übel eine Pause haben.“

Die europäische Sonderrolle der Schweiz führt der Schriftsteller darauf zurück, dass sich ihre Neutralität zwei Mal in einem Jahrhundert bewährt habe. „Die unbewusste Reaktion darauf ist: Wir haben von Europa nichts zu lernen, wenn jemand etwas zu lernen hat, dann sind es die anderen. Das ist natürlich keine Einstellung, die länger dauern kann als eine halbe Generation.“ Dadurch sei einiges versäumt worden. „Die Schweiz kann keine Off-Shore-Insel in Europa bleiben“, dagte Muschg.

An seinem Gastland Deutschland hat Adolf Muschg eine „tief rätselhafte Seite“ entdeckt, „die mir nicht ganz neu ist, aber zurzeit durch den Fieberschauer des nahen Wahlkampfs etwas erschüttert wird“: Eine „apokalyptische Disposition“ der Deutschen. Es wachse ihnen, „dem angeblich tüchtigsten Volk Europas“, scheinbar seine eigene Situation permanent über den Kopf. Muschg: „Die Deutschen sind noch nicht recht daran gewöhnt in einer modernen Republik mit Wasser zu kochen. Es muss immer Explosivstoff sein. Man könne es auch als eine „ungemessene Provinzialität des Verhältnisses zu sich selbst“ sehen. „Der Knick, den dieses Volk in seiner Kollektivpsyche mit dem Aufarbeiten des Holocaust erlebt hat, hat zu einer merkwürdigen Lähmung geführt. Und zwar genau in dem Augenblick, wo es eigentlich nur vorwärts zu sehen gelte.“

Bei den Deutschen bestehe die Tradition der Folgsamkeit, auch wenn sie örtlich auch rebellisch oder aufmuckend sei, weiter. Man vertraue der Regierung, auch wenn man ihr gründlich misstraut, doch soweit, dass sie alles richten müsse. „Es ist noch immer ein sehr hierarchiebedürftiges Land, wo die Hierarchien auch geltend gemacht werden. In der Schweiz existieren sie genauso, werden aber klein geredet, unterspielt.“

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