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Schnell die Fronten wechseln

Wer sein Leben liebt, wird zum Wendehals. Einige ehemals ranghohe Taliban kommandieren nun Truppen der neuen afghanischen Regierung - das ist eine ganz „normale Sache“.

Wali Mohammad Ibrahimchiel hat die Seiten gewechselt. Es ist noch nicht so lange her, dass er sich als mächtiger Taliban-Kommandeur mit Hunderten Soldaten darauf vorbereitete, im Kampf zu sterben. Doch als die Anti-Taliban-Truppen ihren raschen Marsch durch Nordafghanistan begannen, fühlte Ibrahimchiel das Ende der Taliban nahen. Deshalb traf er eine einfache und pragmatische Entscheidung: Er lief zur anderen Seite über.

Jetzt hat ihm die neue afghanische Regierung ein neues Kommando übertragen, das ihm noch mehr Macht verleiht. Befahl er bei den Taliban rund 800 Kämpfer, steht nun die 70. Division unter seinem Kommando, zu der etwa 3.500 Soldaten gehören. In vermutlich jedem anderen Land der Erde wäre Ibrahimchiels Verhalten wohl als Treuelosigkeit und Verrat bezeichnet worden, doch innerhalb der afghanischen Kriegsführung ist es nur Strategie. „Das ist eine ganz normale Sache in Afghanistan. Jeder liebt doch sein Leben und möchte es auch behalten. Wir haben schon immer die Seiten gewechselt“, sagt Ibrahimchiel.

Der 25-jährige Afghane kennt viele Kommandeure, die genau wie er gehandelt und dem einstigen Gegner ihre Truppen gleich mitgebracht haben. Der Schaden, den diese abtrünnigen Befehlshaber bei ihrem einstigen Kampfgenossen damit angerichteten, trug in erheblichem Maß zur raschen Niederlage des Talibansystems bei.

Während Ibrahimchiel sich in weiche Kissen zurücklehnt, von seinen Beratern umgeben und in gut geheizten Räumen, sitzen tausende inhaftierte Taliban im kalten und schmutzigen Gefängnis in Schibergan, etwa 90 Kilometer entfernt. Sie haben die Chance für einen Seitenwechsel verpasst oder sich geweigert, zu den Feinden überzulaufen. Ihr einstiger Mitkämpfer Ibrahimchiel kommandiert nun die Stadt Tschahar Bulak, rund 40 Kilometer westlich von Masar-i-Scharif gelegen. General Raschid Dostum habe ihn sehr mächtig gemacht, sagt er.

Vor sieben Jahren hat Ibrahimchiel das erste Mal zu einer Waffe gegriffen. Es war von ihm, dem Sohn eines örtlichen Befehlshabers und Straßenräubers, eben so erwartet worden. Der damals 18-Jährige trat in die örtliche Miliz ein, die unter dem Kommando von Paschtunen geführt wurde, zu denen auch er gehört. Als die Taliban, ebenfalls unter paschtunischem Kommando, 1997 in Nordafghanistan einmarschierten, wechselte Ibrahimchiel die Seiten. „Die Taliban brachten Frieden, und jeder war sicher“, sagt er.

Bald jedoch bröckelte die Illusion. Die Taliban wollten ihm nicht erlauben zu rauchen. Zwei Tage musste er ins Gefängnis, weil er einen seiner Soldaten vor einer Bestrafung schützen wollte. Und dann bemerkte er, wer noch in den Reihen der Taliban kämpfte: Araber, Pakistaner und Tschetschenen. „Auf beiden Seiten des Krieges waren Afghanen, aber nun töteten Fremde Afghanen“, sagt er.

Während der ersten US-Bombardements schwand seine Loyalität zusehends, und mit einem Satellitentelefon nahm er Kontakt zur Nordallianz auf. Mitte Oktober traf er sich mit den ehemaligen Feinden, und drei Wochen nach dem Fall Masar-i-Scharifs war er mächtiger als je zuvor. Wali Mohammad Ibrahimchiel genießt seine neue Macht: „Das gesamte Gebiet untersteht meiner Kontrolle. Ich kann jedem befehlen. Es gibt nichts, das mir verboten ist.“

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