Russland verhaftete hunderte Zivilisten in Ukraine

Laut humanitärem Völkerrecht dürfen Zivilisten in bewaffneten Konflikten nicht willkürlich festgenommen werden. Dennoch habe Russland das seit dem 24. Februar 2022 in zumindest dokumentierten 948 Fällen getan, so Vertreter der ukrainischen NGO "Medieninitiative für Menschenrechte" am Freitag in Wien.
Russland hält Zivilisten ohne medizinische Unterstützung fest
Zivilisten würden häufig an den gleichen Orten wie Kriegsgefangene festgehalten, sie würden aber nur selten ausgetauscht, weil es keinen diesbezüglichen Mechanismus für diese Personengruppe gebe, erklärte Anastassija Pantjeljewa von der "Medieninitiative für Menschenrechte" in einem Pressegespräch am Rande eines Briefings bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). "In vielen Fällen wurden sie mehr als ein Jahr festgehalten, ohne dass es dafür eine offizielle Bestätigung geben würde und ohne dass sie medizinisch versorgt würden oder rechtliche Unterstützung erhielten", referierte die Expertin und beklagte massive Menschenrechtsverletzungen.
Ukrainische Lokalpolitiker werden von Russland als Geiseln gehalten
Auf einer von der NGO erstellten Landkarte jener Orte, an denen ukrainische Zivilisten de facto als Geisel festgehalten werden, befinden sich mit Stand von Mitte März 2023 insgesamt 44 Gefängnisse und Polizeistationen in derzeit von Russland besetzten Teilen der Ukraine sowie 39 Gefängnisse auf dem Territorium der Russischen Föderation. Eingezeichnet ist aber auch ein Filtrationslager in Belarus.
Die ukrainische NGO nannte am Freitag aber auch konkrete Geiseln, darunter vor allem Lokalpolitiker aus dem Süden der Ukraine. Pantjeljewa bestätigte auf APA-Nachfrage, dass der 63-jährige und gesundheitlich schwer angeschlagene Ex-Bürgermeister von Cherson, Wolodymyr Mykolajenko, am Leben sei. "Er befindet sich in einem konkreten Gefängnis für Untersuchungshäftlinge in Russland, das ich aber nicht nennen kann", sagte die NGO-Vertreterin. 2014 hatte der pro-westliche Politiker in einem Interview mit der APA ausführlich über die Situation in seiner Heimatstadt erzählt.
Zivilisten berichten von russischer Gefangenschaft
Auch der 75-jähriger Aktivist Mariano García Calatayud aus Spanien, der mit seiner ukrainischen Partnerin in Cherson gelebt hat, lebe und befinde sich in einem Gefängnis auf der Krim, berichtete Pantjeljewa. Ihre Kollegin Ljubow Smatschylo erläuterte, dass selbst das Rote Kreuz Schwierigkeiten habe, von Russland die Erlaubnis zu erhalten, inhaftierte Zivilisten zu besuchen. "Wir denken aber, dass das Rote Kreuz hier mehr Druck machen sollte", sagte Smatschylo.
Über seine konkrete Geschichte erzählte am Freitag schließlich der 53-jährige Wjatscheslaw Sawalnyj, der beim Versuch seine Familie aus dem belagerten Mariupol zu evakuieren, im März 2022 bei einem russischen Checkpoint festgenommen worden war.
Permanente Gewalt in russischen Gefängnissen
Der Techniker Sawalnyj, der wegen seiner sportlichen Statur fälschlicherweise für einen ukrainischen Geheimdienstoffizier gehalten worden war, kam nach Verhören im südukrainischen Melitopol in das berüchtigte Filtrationslager in Oleniwka außerhalb des ukrainischen Donezk. In Folge wurde er in ein Untersuchungsgefängnis im russischen Kursk und schließlich in eine Strafkolonie in Donskoj in der russischen Region Tula transferiert.
Sawalnyj berichtete, dass er zu Beginn seiner Leidenstour zunächst mit anderen gezwungen wurde, sein eigenes Grab zu schaufeln, später war er Verhören und gerade auch in Gefängnissen in Russland permanenter Gewalt ausgesetzt, für die die gewöhnlichen russischen Gefängniswärter verantwortlich gewesen seien. "Ich hatte den Eindruck, dass ich mich in den 1930ern befinde", schilderte er.
Der Ukrainer, der erst im Zug eines Gefangenenaustauschs im Jänner 2023 in seine Heimat zurückkehren konnte, verlangte, dass die Direktoren der involvierten russischen Haftanstalten für diese Folter an Ukrainern zur Verantwortung gezogen werden sollen. "Das sind offiziell ernannte Personen, ihre Namen sind bekannt", sagte er.
(APA/Red)