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Russland: Kein Ende des Geiseldramas in Sicht

Das Geiseldrama in einer kleinen Schule im Nordkaukasus hat Russland und die Welt auch am Donnerstag in Atem gehalten. In dem Nervenkrieg zeichnete sich bis zum späten Abend weiter keine Lösung ab.

Zwar ließen die schwer bewaffneten Terroristen nach stundenlangen Verhandlungen mindestens 26 Frauen und Kleinkinder frei. Mehrere hundert Geiseln – darunter zahlreiche Kinder – befanden sich jedoch am Abend weiter in der Gewalt der Terroristen, die damit gedroht haben, die Schule in der nordossetischen Stadt Beslan in die Luft zu sprengen. Wasser- und Lebensmittellieferungen lehnten die Geiselnehmer wiederholt ab.

Die Angreifer hatten die Schule am Mittwochmorgen, dem ersten Tag des neuen Schuljahres, gestürmt. Wie viele Menschen sie festhalten, ist nicht genau bekannt. Ein Vertreter des nordossetischen Präsidialamts, Lew Dsugajew, sagte am Donnerstagabend, die ursprünglich genannte Zahl von 354 sei wahrscheinlich zu niedrig. Einige der rund 2.000 besorgten Angehörigen, die sich rund um das Schulgelände versammelt haben, gehen von bis zu 800 gefangenen Kindern und Erwachsenen aus.

Präsident Wladimir Putin versprach in einer ersten öffentlichen Stellungnahme, die Regierung werde alles Menschenmögliche tun, um die Geiseln zu retten. Das Verbrechen und der Angriff richte sich nicht nur gegen einzelne Bürger Russlands, sondern gegen Russland als Ganzes.

Dutzende Angehörige warteten in der Nähe des Gebäudes weiter auf Nachrichten. Einige hatten die ganze erste Nacht teils in strömendem Regen dort verbracht. Die russischen Sicherheitskräfte hielten das Gelände weiterhin weiträumig abgeriegelt. Trotz einiger Militärbewegungen in der Sicherheitszone waren nach Meinung von Augenzeugen vorerst keine Anzeichen für einen Einsatz erkennbar.

Die Freilassung einer ersten Gruppe von Geiseln vermittelte der frühere Präsident der Nachbarrepublik Inguschetien, Ruslan Auschew. Dsugajew zufolge durften 26 Menschen die Schule verlassen. Aus anderer Quelle verlautete, es sei noch eine zweite Gruppe von fünf Menschen freigekommen. Kurz vor der Freilassung hatten zwei Explosionen die vor der Schule Wartenden in Angst und Schrecken versetzt. Nach Angaben des Einsatzkommandos feuerten Extremisten Granaten auf zwei Autos. Reporter berichteten, sie hätten ein ausgebranntes Auto gesehen.

Unter den Terroristen sind nach offizieller Darstellung neben Tschetschenen auch Angehörige anderer Kaukasus-Völker. „Zur Gruppe gehören Osseten, Inguschen, Tschetschenen und Russen“, sagte der Innenminister Nord-Ossetiens, Kasbek Dsantijew. Angeblich verlangen die Terroristen den Abzug russischer Truppen aus Tschetschenien sowie die Freilassung von inhaftierten Gesinnungsgenossen. Das Angebot freien Abzugs nach Tschetschenien oder in die Nachbarrepublik Inguschetien soll das Kommando abgelehnt haben.

Ein Vertreter des tschetschenischen Rebellenführers Aslan Maschadow wies eine Verwicklung in die Geiselnahme zurück. Auf einer tschetschenischen Web-Site wurde auch die Vermutung dementiert, dass die Organisation des tschetschenischen Rebellen Schamil Bassajew für die Besetzung der Schule verantwortlich sein könnte.

Auch am zweiten Tag der Geiselnahme durften die Opfer nicht mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgt werden. „Ich habe eben mit ihnen verhandelt, aber sie haben leider erneut die Versorgung der Geiseln mit Essen, Trinken und Medikamenten abgelehnt“, sagte am Abend der in Russland bekannte Kinderarzt Leonid Roschal.

Das Angebot eines ungehinderten Abzugs lehnten die Geiselnehmer nach einem Bericht des russischen Fernsehsenders NTW ab. Übermittelt wurde dieser Vorschlag von Roschal, der schon vor zwei Jahren bei der Besetzung des Moskauer Musical-Theaters Nord-Ost durch tschetschenische Terroristen den Gefangenen geholfen hatte. Roschal warnte, ein blutiges Ende des Geiseldramas „würde Krieg bedeuten“.

Einige Geiseln waren bereits am Mittwoch getötet worden, die Angaben schwankten zwischen sieben und 16. Am Donnerstagmorgen waren aus der Schule zudem mehrere Schüsse zu hören. Das Gebäude wurde von Mitgliedern einer Spezialeinheit umstellt. Der örtliche Geheimdienstchef Waleri Andrejew sagte laut ITAR-Tass jedoch, er setze auf Verhandlungen. Ermittler versuchten laut Andrejew, Verwandte einiger bereits identifizierter Geiselnehmer ausfindig zu machen, damit sie Kontakt zu ihnen aufnehmen.

Der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder bot Putin in einem Telefonat den Einsatz von Ambulanz-Flugzeugen der Bundeswehr an. Die Luftwaffe hält nach Angaben eines Sprechers eine der Spezialmaschinen MedEvac zum Ausfliegen von Verletzten in so genannter 24-Stunden-Bereitschaft. Ein Ambulanzflugzeug kann sechs Intensiv-Patienten und zusätzlich bis zu 38 Verletzte auf Liegeplätzen aufnehmen.

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