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"Präventivschlag": Putin greift militärisch in Syrien ein - Russland fliegt erste Luftangriffe

Satellitenbild zeigt russische Streitkräfte in der syrischen Stadt Latakia.
Satellitenbild zeigt russische Streitkräfte in der syrischen Stadt Latakia. ©GeoNorth, AllSource Analysis, Airbus via AP
Nach wochenlangen Spekulationen über eine russische Intervention in Syrien macht Kremlchef Putin ernst. Kampfjets bombardieren erste Ziele. Gilt der Einsatz wirklich nur dem Kampf gegen den Islamischen Staat - oder will Moskau seinen Partner Assad an der Macht halten?
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Mit Luftschlägen auf strategische Ziele in Syrien hat Russland erstmals militärisch in den blutigen Konflikt eingegriffen. Kampfjets hätten unter anderem Munitionsdepots und Treibstofflager der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) etwa 200 Kilometer von Damaskus bombardiert, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau am Mittwoch mit. Syrischen Aktivisten zufolge bombardierten die Jets mehrere Orte nördlich von Homs, die von gemäßigten Rebellen gehalten werden.

Präsident Wladimir Putin nannte Russlands Intervention den “einzigen Weg im Kampf gegen den internationalen Terrorismus”. Russland werde die syrische Armee so lange unterstützen, bis diese ihren Kampf beendet habe, kündigte er an.

Aktivisten: Tote bei russischem Luftangriff nahe Homs

Nach Angaben syrischer Aktivisten habe die russische Luftwaffe bei ihrem ersten Einsatz im syrischen Bürgerkrieg mehrere Ort nördlich der Stadt Homs bombardiert. Dabei kamen nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte mindestens 27 Menschen ums Leben. Aktivisten berichteten sogar von mehr als 35 Toten, darunter Frauen und Kinder.

“Keine IS-Kämpfer in bombardiertem Gebiet”

Diese Region werde von verschiedenen gemäßigten Rebellengruppen beherrscht, sagte Samir Naschar, führendes Mitglied des Oppositionsbündnisses Nationale Syrische Koalition. Dessen Vorsitzender Khaled Khudscha erklärte über Twitter, in dem Gebiet gebe es weder Kämpfer des IS noch des Terrornetzwerkes Al-Kaida.

Putin erhält grünes Licht vom Parlament für Militäreinsatz

Vor dem ersten Luftangriff hatte der russische Föderationsrat das Ersuchen Putins um einen Militäreinsatz in Syrien einstimmig gebilligt. Präsidialamtschef Sergej Iwanow sagte, das Mandat beziehe sich auf die russische Luftwaffe und nicht auf einen Einsatz von Bodentruppen. Für den Einsatz von russischen Soldaten im Ausland benötigt Putin einen formellen Beschluss des Föderationsrates. Zuletzt hatte er eine solche Bitte im Vorfeld der Besetzung der Krim formuliert.

Stichwort: der russische Föderationsrat 

Der Föderationsrat ist das Oberhaus des russischen Parlaments. 170 Senatoren repräsentieren darin die 85 Regionen, Gebiete und Teilrepubliken des Riesenreiches. Die Regierungen und Regionalparlamente entsenden je einen Vertreter. Neben der Beteiligung an der Gesetzgebung gehört zu den wichtigsten Befugnissen der Kammer, den Einsatz von russischen Soldaten im Ausland zu genehmigen. Der Föderationsrat muss auch Erlassen des Präsidenten und Oberbefehlshabers der Streitkräfte zustimmen, das Kriegsrecht oder den Ausnahmezustand zu verhängen. Vorsitzende des Rates ist seit 2011 Valentina Matwijenko, eine Vertraute von Kremlchef Putin.

Russland hatte in den vergangenen Wochen seine Militärpräsenz in Syrien massiv verstärkt. Neben Panzern, Kampfflugzeugen und Drohnen sollen auch mindestens 500 Soldaten dort stationiert worden sein. Putin ist der wichtigste Verbündete Assads, der zunehmend durch die Extremistenmiliz IS unter Druck kommt.

“Präventivschlag” im Kampf gegen Terrorismus

Kremlchef Putin sagte, Moskau bekämpfe die Jihadisten in Syrien “vorausschauend”, es handle sich um einen “Präventivschlag”. “Der einzige richtige Weg im Kampf gegen den internationalen Terrorismus ist es, vorausschauend zu handeln”, sagte er. “Kämpfer und Terroristen” müssten in den Gebieten bekämpft und “vernichtet” werden, die sie bereits erobert hätten, statt “darauf zu warten, dass sie zu uns kommen”. Kreml-Verwaltungschef Sergej Iwanow hatte zuvor im Fernsehen gesagt, die Entscheidung für russische Luftangriffe in Syrien sei nach einem Hilfeersuchen Assads gefallen. Den Einsatz von russischen Bodentruppen in Syrien schloss er aus.

Militäroperation mit “klar definiertem Zeitraum”

Die russische Nachrichtenagentur Interfax zitierte Iwanow mit den Worten, die russischen Militäroperationen in Syrien würden einen klar definierten Zeitrahmen haben und “nicht ewig dauern”. Zudem sollten syrische Kampfpiloten mit russischen Jets Angriffe auf den IS fliegen, meldete die Agentur Interfax. Der russische Militärexperte Konstantin Siwkow sagte, er rechne mit einer Entsendung von 40 bis 60 Suchoi-Kampfjets. Die Bomber könnten etwa von der Schwarzmeer-Halbinsel Krim über den Irak nach Syrien fliegen, da die Türkei ihren Luftraum dafür wohl nicht freigeben werde.

Nach Angaben des Verteidigungsministeriums soll das in Bagdad aufgebaute Informationszentrum die Angriffe von Luftwaffe und Bodentruppen in Syrien koordinieren. Über dieses Zentrum würden auch Informationen über die Luftangriffe mit den USA ausgetauscht, zitierte Interfax das Ministerium. Die USA fliegen bereits gemeinsam mit Frankreich und anderen Verbündeten Luftangriffe gegen den IS in Syrien und im Irak. Die Islamisten haben in beiden Staaten große Gebiete unter ihre Kontrolle gebracht.

Washington, Moskau und die Streitfrage Assad

Die USA werfen der Regierung in Moskau vor, der syrischen Armee mit Kampfflugzeugen, Panzern und anderer Ausrüstung zu helfen. Die größte Streitfrage der Regierungen der USA und Russlands im Syrien-Konflikt ist die künftige Rolle Assads. Putin hatte am Montag mit US-Präsident Barack Obama über ein Vorgehen gegen die Extremistenorganisation Islamischer Staat (IS) in Syrien und über die Rolle Assads in einem politischen Übergangsprozess gesprochen. Vor allem der Umgang mit Assad, dessen Abtritt der Westen verlangt, blieb umstritten.

Der Westen fürchtet, dass der umstrittene Präsident Assad eine Intervention des Partners Russland zum Kampf gegen die Opposition und die Zivilbevölkerung nutzen könnte. Putin sagte, er rechne mit Assads “Kompromissbereitschaft” bei der Lösung der Krise. Russland betreibt in der syrischen Hafenstadt Tartus eine wichtige Militärbasis.

“Assad ist Teil des Problems”: Nato kritisiert russisches Handeln

Auf Kritik stieß das russische Eingreifen in Syrien dementsprechend bei der Nato. Die Unterstützung Russlands für Syriens Assad sei “nicht konstruktiv”, sagte ein hochrangiger Mitarbeiter der Militärallianz am Mittwoch in Brüssel: “Assad ist Teil des Problems.” Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg habe Russland dazu aufgefordert, “eine konstruktive und kooperative Rolle” im Kampf gegen den IS zu übernehmen. Jede neue militärische Aktion dürfe nicht im Konflikt zu den von den USA geleiteten Einsätzen gegen den IS stehen.

Russland: “Es geht nicht um Assad”

Mit dem grünen Licht für eine Intervention knüpft Putin an seine Rede bei den Vereinten Nationen am Montag an, in der er einen gemeinsamen Kampf gegen den IS gefordert hatte. In New York hatte er auch mit US-Präsident Barack Obama gesprochen. Putin schlägt eine Allianz vor, an der sich auch die Armee des syrischen Regimes beteiligen soll. Obama sieht aber die Zukunft des kriegsgeplagten Landes nach einer Übergangszeit ausschließlich ohne Assad, den er in seiner Rede bei der UN-Vollversammlung als “Tyrannen” bezeichnet hatte.

Konstantin Kossatschjow, Leiter des Auswärtigen Ausschusses des Föderationsrates, sagte, es gehe nicht um Assad. “Im Unterschied zu anderen Staaten, die im Nahen Osten agieren, führtRussland einen Kampf gegen den Terror und strebt nicht einen Regimewechsel an.”

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Kreml-Zitate zum russischen Syrien-Einsatz

“Ich will Sie informieren, dass der Präsident der Syrischen Arabischen Republik unsere Staatsführung um militärische Hilfe ersucht hat.” (Der Chef der Kreml-Verwaltung, Sergej Iwanow, im russischen Fernsehen zu einem möglichen Militäreinsatz in Syrien)

“Dieser Einsatz der russischen Luftwaffe kann selbstverständlich nicht ewig dauern und wird zeitlich begrenzt. Zur Dauer der Operation, zur Zahl der einzusetzenden Flugapparate und zum Typus der Waffen, die unsere Fliegerkräfte anwenden werden, kann ich jetzt aus verständlichen Gründen keine Angaben machen.” (Iwanow bei derselben Gelegenheit)

“Russland sollte den Kampf gegen den Islamischen Staat beginnen, bevor sich deren Extremisten in Russland einschleusen. (…) Die Zahl der Bürger Russlands und anderer Länder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, die sich leider der Terrororganisation IS anschließen, wächst mit jeder Stunde. Es geht nicht um Dutzende oder Hunderte, sondern bereits um Tausende solcher Bürger Russlands. Es ist also zweckmäßig, hierbei präventiv und dabei in weit entfernten Gebieten zu handeln, um dann nicht mit diesem Problem bei uns in Russland konfrontiert zu sein.” (Iwanow bei derselben Gelegenheit)

“Es geht nicht um die Erlangung irgendwelcher außenpolitischer Ziele oder um die Befriedigung irgendwelcher Ambitionen, was unsere westlichen Partner uns regelmäßig vorwerfen; es geht ausschließlich um die (Wahrung) nationaler Interessen der Russischen Föderation.” (Iwanow bei derselben Gelegenheit)

“Ich möchte betonen, dass wir unsere Partner und Verbündeten über den gefassten Beschluss heute noch informieren werden. Über Militärkanäle dürften möglicherweise auch spezifische Daten übermittelt werden.” (Iwanow bei derselben Gelegenheit)

Verbrechen gegen Menschlichkeit: Paris ermittelt gegen Assad ein

Unterdessen leitete die Staatsanwaltschaft in Frankreich, das als besonders harter Gegner von Assad bekannt ist, Ermittlungen gegen die syrische Regierung und Assad wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein. Grundlage sind Aussagen und Fotos eines früheren Fotografen der syrischen Militärpolizei, der im Juli 2013 aus Syrien geflüchtet war. Er hatte 55.000 Fotos mitgebracht, die zahllose Leichen mit Folterspuren zeigen sollen.

Frankreich fliegt seit Kurzem Luftangriffe gegen den IS in Syrien. Beim ersten Angriff am Sonntag auf ein IS-Ausbildungslager wurden laut syrischer Beobachtungsstelle für Menschenrechte 30 Jihadisten getötet.

(dpa/APA/red)

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