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Ruhiger Start der Palästinenser-Wahl

Ohne größere Zwischenfälle hat am Sonntag die palästinensische Präsidentenwahl begonnen. In Ost-Jerusalem und im Gaza-Streifen gab es vereinzelt Beschwerden über israelische Behinderungen.

Viele Palästinenser in Ost-Jerusalem, die in israelischen Postämtern abstimmen sollten, bemerkten erst zu spät, dass sie nicht in den Wählerlisten verzeichnet waren und zur Stimmabgabe ins Westjordanland fahren mussten. In Khan Yunis (Younis) im südlichen Gaza-Streifen eröffneten israelische Soldaten in der Nähe eines Wahllokals das Feuer. Es wurde niemand verletzt.

Der Chef der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), Mahmud Abbas (Abu Mazen), gab seine Stimme in der Früh im palästinensischen Hauptquartier in Ramallah ab und sprach von einer hohen Wahlbeteiligung. „Ich freue mich, von meinem Wahlrecht Gebrauch zu machen“, sagte er. Der reibungslose Ablauf zeige, dass die Palästinenser auf dem Weg zu einer Demokratie seien.

Abbas, der als einziger für die stärkste PLO-Fraktion Fatah antritt, gilt als aussichtsreichster Kandidat für die Nachfolge des vor zwei Monaten verstorbenen Yasser Arafat. Letzten Meinungsumfragen zufolge lag Abbas in der Wählergunst vor Mustafa Barghuti (Barghouthi), der neben fünf weiteren Bewerbern als unabhängiger Kandidat um das Präsidentenamt kämpft.

Internationale Beobachter berichteten von Organisationsmängeln in Ostjerusalem, Wähler beklagten dort eine Einschüchterung durch Israel. Nur eine Minderheit der 120.000 Palästinenser in Jerusalem durfte ihre Stimme in Urnen auf israelischen Postämtern abgeben. Die Mehrheit war gezwungen, die Stadt zu verlassen und in den Vorstädten zu wählen. Viele Palästinenser erfuhren jedoch erst auf den Postämtern, dass sie nicht auf den Wahllisten stehen. „Es ist sehr verwirrend“, sagte der frühere US-Präsident Jimmy Carter.

Israelische Demonstranten versuchten, sich einem Postamt zu nähern und die Wahl zu blockieren. Die Gruppe, die mit Israel-Flaggen ausgerüstet war, wurde von einem großen Polizeiaufgebot abgewehrt. In den besetzten Gebieten lockerten die israelischen Streitkräfte wie angekündigt mit Wahlbeginn die Reisebeschränkungen. Im südlichen Gaza-Streifen warfen palästinensische Sicherheitskräfte Israel jedoch vor, die Bewohner am Erreichen der Wahllokale zu hindern.

Barghuti prangerte Unregelmäßigkeiten bei der Wahl an und sprach von „zwei grobe Verletzungen“. Zum einen habe eine Friedensinitiative noch nach Ende des Wahlkampfes in einer Zeitung zur Wahl von Abbas aufgerufen. Zudem werde in drei Wahllokalen im Westjordanland sowie in einigen im Gaza-Streifen Tinte zur Markierung der Daumen von Wählern benützt, die mit Wasser abwaschbar sei. Barghuti sagte, er habe die zentrale palästinensische Wahlkommission um eine Überprüfung der Vorwürfe gebeten.

Die als Wahlbeobachterin tätige ÖVP-Europaabgeordnete Ursula Stenzel sprach in einem Telefonat mit der APA am späten Sonntagvormittag von einer „sehr regen Wahlbeteiligung“ und einem „sehr ruhigen, positiven Verlauf“ des Urnenganges. „Man merkt auch den Stolz der Leute, zur Wahl zu gehen“, betonte die Parlamentarierin.

Die militante Organisation Hamas, die zum Wahlboykott aufgerufen hatte, warnte ihre Anhänger am Sonntag in Jenin erneut vor einer Teilnahme an dem Urnengang. In den Wahllokalen in Gaza-Stadt und in Nablus im Westjordanland herrschte rund zwei Stunden nach der Eröffnung allerdings reger Betrieb. „Ich werde Abu Mazen wählen, weil ich glaube, dass er als einziger in der Lage ist, uns auf die sichere Seite dieses Ozeans von Konflikt zu bringen“, sagte der Polizist Mohammed Juma in Gaza. Der 25-jährige Siyad Tbeleh war bei seiner Stimmabgabe in Nablus schon voller Vorfreude: „Ich glaube, Abu Mazen wird gewinnen, und wir werden heute Abend feiern.“

Der 69-jährige Abbas setzt sich für eine rasche Wiederaufnahme der Friedensgespräche mit Israel ein, hat sich im Wahlkampf aber auch demonstrativ hinter die bewaffneten palästinensischen Gruppen gestellt. Sein stärkster Rivale, der 50-jähriger Menschenrechtsaktivist Barghuti, hat sich im Wahlkampf als Reformer, Fürsprecher der Armen und Kämpfer gegen die Korruption in der palästinensischen Autonomiebehörde präsentiert.

Rund 70 Prozent der mehr als 1,8 Millionen Stimmberechtigten im Gaza-Streifen und im Westjordanland haben sich nach Angaben der Wahlkommission in die Wahllisten eingetragen. Die mehr als 1.000 Wahllokale schließen um 19.00 Uhr (18.00 Uhr MEZ). Erste vorläufige Ergebnisse werden für den späten Abend erwartet.

Auch für Israel für Bedeutung

„Die palästinensischen Wahlen sind auch für Israel von höchster Bedeutung. Wir hoffen, dass eine verantwortungsvolle Regierung zu Stande kommt, mit der wir dann auch den Friedensprozess erneuern können.“ Das sagte der israelische Außenminister Silvan Shalom bei einem Treffen mit ausländischen Wahlbeobachtern. 542 Beobachter aus den USA sowie aus europäischen und anderen Staaten wurden von Israel mit Sonderausweisen ausgestattet, darunter der frühere US-Präsident Jimmy Carter, Frankreichs Ex-Premier Michel Rocard und die österreichische Abgeordnete zum Europäischen Parlament (EP), Ursula Stenzel. Weitere 200 Wahlbeobachter haben sich nicht akkreditiert.

Ein israelischer Militärsprecher gibt an, im Rahmen der „Erleichterungen“ am Wahltag alle Truppen aus den autonomen palästinensischen Städten abgezogen zu haben. An den „festen“ Checkpoints sei das Personal aufgestockt worden, um den Palästinensern ein rascheres Passieren zu gewähren. Offiziere wachen über das Geschehen. Hervorgehoben wird die Einrichtung gemeinsamer Koordinierungsbüros mit den Palästinensern, um jedes aufkommende Problem sofort zu beheben. Diese Büros bedeuten eine direkte Kooperation, wie es sie Beobachtern zufolge seit vier Jahren nicht mehr gegeben hat.

In Ost-Jerusalem wurden die Polizei verstärkt und die „Alarmstufe 4“ ausgerufen, also der zweithöchste Alarmzustand. Die Polizei befürchtete Störmanöver durch rechtsradikale Israelis und Terroranschläge extremistischer Palästinenser. Vor dem Postamt in der Salah-Adin-Straße wurden zwei vermummte Palästinenser festgenommen, die zum Boykott der Wahlen aufriefen. Von dem Postamt am Jaffa-Tor wurden dreißig israelische Mädchen ferngehalten, als sie gegen die palästinensischen Wahlen demonstrieren wollten.

Sechs linksgerichtete Abgeordnete erklärten sich zu „Checkpoint-Beobachtern“, um sicher zu stellen, dass die Palästinenser möglichst ungehindert von Jerusalem in die palästinensischen Gebiete passieren können. In den Jerusalemer Postämtern können nämlich nur jene Araber wählen, die schon 1996 für die Wahlen registriert waren. Um auch allen anderen eine Chance zu bieten, allein mit ihrem Ausweis zu wählen, ohne registriert zu sein, wurden separate Wahllokale jenseits der Stadtgrenze eingerichtet.

„Wahlbetrug wie doppelte Stimmabgabe ist praktisch ausgeschlossen“, sagt der deutsche EP-Abgeordnete und Wahlbeobachter Armin Laschet. „Einer von uns hat die Tinte, die jedem Wähler auf einen Finger aufgetragen wird, selber ausprobiert. Trotz Schrubben lässt sie sich auch nach einer Woche noch nicht abwaschen.“ Auch Stenzel wies darauf hin, dass sich die Tinte mindestens 72 Stunden lang nicht entfernen lasse.

Die israelische Presse reagiert gespalten auf den Urnengang. „Die Ausreden haben ausgedient“, heißt es im Massenblatt „Yediot Ahronot“. Dennoch werde der Terror weitergehen. Während die radikalen Oppositionsgruppen im Gaza-Streifen versucht hätten, die Wahlen zu stören, so würden sie nach den Wahlen weiterbomben, um gegenüber Mahmud Abbas den Preis für einen Waffenstillstand in die Höhe zu schrauben. Abbas halte zwar die Attacken auf Israel für einen Fehler, „aber er wird es nicht wagen, die Hand gegen die Extremisten zu erheben.“

Die linksgerichtete Zeitung „Haaretz“ berichtet, dass Sharon einer großen Amnestie für Gefangene zustimmen könnte, falls es Abbas gelinge, den Raketenbeschuss vom Gaza-Streifen aus zu stoppen. In einem Kommentar prophezeit Dani Rubinstein, dass der Wahlsieger „sich nicht beeilen wird, Israel entgegenzukommen“. Die Wahlen seien zwar für alle Beteiligten wichtig, aber „es wird so schnell keinen Wandel in den palästinensischen Gebieten geben“. Die Hoffnungen auf eine baldige Wiederaufnahme des Friedensprozesses sollten demnach nicht zu hoch gesteckt werden.

Kritik aus Abbas-Lager

Das Lager des palästinensischen Präsidentschaftskandidaten Mahmud Abbas hat am Sonntag „grobe Fehler“ bei der Organisation der Wahl in den Palästinensergebieten bemängelt. Im Gegensatz zu einem Parlamentsbeschluss hätten Mitglieder der Wahlkommission zahlreichen Wählern die Stimmabgabe verwehrt, die statt im Wähler- nur im Einwohnerregister eingetragen gewesen seien, sagte der Leiter vom Abbas-Wahlkampfstab, Tajeb Abdelrahim, in Ramallah. Hunderte weitere Stimmberechtigte seien trotz ihrer Registrierung in den Listen ihres Wahllokals nicht verzeichnet gewesen.

Abbas gilt als klarer Favorit für die Nachfolge des verstorbenen Präsidenten Yasser Arafat; einziger ernstzunehmender Gegner des PLO-Chefs ist der unabhängige Kandidat Mustafa Barghuti. Der Arzt und Menschenrechtler hatte schon vorher kritisiert, in einigen Wahllokalen werde Tinte zur Markierung der Daumen von Wählern genutzt, die jedoch mit Wasser abwaschbar sei.

Entgegen der Befürchtungen verlief die Präsidentschaftswahl am Sonntag zunächst weitgehend ruhig. Nach Angaben des französischen Wahlbeobachters, Ex-Premier Michel Rocard, wurden bis Mittag nur „einige kleinere Zwischenfälle“ gemeldet.

Sechs Stunden nach Öffnung der Wahllokale lag die Beteiligung laut Wahlkommission zwischen 25 und 30 Prozent. Im US-Fernsehsender ABC stellte Außenminister Colin Powell ein größeres Engagement Washingtons in der Region in Aussicht für den Fall, dass die neue Spitze der Autonomiebehörde Entgegenkommen zeige. Powell schloss auch eine Erhöhung der Finanzhilfe für die Palästinensergebiete nicht aus und versprach den palästinensischen Behörden Unterstützung im Kampf gegen Korruption und für mehr Sicherheit.

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