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Reich-Ranicki: Antisemitismus offener geäußert

Walser habe mit seinem Buch „Tod eines Kritikers“ laut Reich-Ranicki „kräftig“ dazu beigetragen, dass Antisemitismus in der Bevölkerung offener zu Tage trete.

Er selbst habe in diesem Sommer nach Erscheinen des Buches mehr antisemitische Schmähbriefe erhalten als sonst, sagte Reich-Ranicki, der morgen Mittwoch (28. August) in der Frankfurter Paulskirche den Goethe-Preis entgegen nimmt. Das Buch, in dem Walser Reich-Ranicki karikiert, war wegen Antisemitismus-Vorwürfen über Wochen Gegenstand öffentlicher Debatten.

Die Atmosphäre in Deutschland habe sich in den vergangenen Jahren „nicht unbedingt günstig“ verändert, meinte der 82-Jährige, der seit 1958 wieder hier lebt. Das hänge damit zusammen, dass „Ressentiments und antisemitische Gefühle jetzt deutlicher zum Vorschein kommen als früher“. Dennoch sehe er keinen Anlass, sich Sorgen zu machen: „Ich habe Antisemitismus mein ganzes Leben lang ertragen. Es ist eine alte Erfahrung, dass mit der Popularität immer auch der Schatten und der Neid wachsen. Alles verzeihen einem die Kollegen, nur nicht den Erfolg. Das habe ich in den letzten Jahren sehr stark zu spüren bekommen.“

Neid vermutet „MRR“ auch hinter den Attacken seines früheren Freundes, des Münchner Kritikers Joachim Kaiser. Dieser habe ihn „tief enttäuscht“, seine Äußerungen finde er empörend. „Kaiser hat die literarische Qualität des Walser-Buches gerühmt, was auf gesundheitliche Schwierigkeiten schließen lässt. Jedenfalls scheint seine Selbstkontrolle stark reduziert.“ Kaiser habe ihn außerdem wegen seines, Reich-Ranickis, geplanten Literaturkanons angegriffen:
„Eine absurde Attacke“.

In politische Debatten zur deutschen Bundestagswahl will sich der Kritiker nicht einmischen. „Ich habe mich noch nie über das politische Leben, über Parteien, über Politiker geäußert. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat mich aufgefordert, mit ihm bei einer Wahlkundgebung auf dem Podium zu sitzen. Natürlich habe ich sofort abgesagt. Wenn ich mich in das Werk von Günter Grass oder Martin Walser oder anderen Autor einmische, gibt es genug Aufregung in diesem Land.“

Die Zuerkennung des renommierten Goethe-Preises nannte er den Höhepunkt in seinem Leben. „Das ist die höchste Auszeichnung, die ich bekommen kann, und er hat mir die größte Freude bereitet neben einem ganz kleinen Preis: der Heine-Plakette 1976, meiner ersten literarischen Auszeichnung mit immerhin schon 56 Jahren.“ Das Preisgeld in Höhe von 50.000 Euro werde er dem geplanten Frankfurter „Haus der Chöre“ zukommen lassen, kündigte Reich-Ranicki an. Sein Verhältnis zu Goethe sei heute eher noch tiefer als früher. „Goethe ist für mich überhaupt nicht passØ, nach wie vor greife ich häufig zum ’Faust’ und zur Lyrik. Ich bin nach wie vor der Ansicht, dass er der größte Lyriker in deutscher Sprache ist.“

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