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Philosoph, Wissenschaftler, Bauer und Schilehrer: Ernst von Glasersfeld erhielt Wiener Medaille

Ernst von Glasersfeld und Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny
Ernst von Glasersfeld und Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny ©media wien
Mit der Ehrenmedaille der Bundeshauptstadt Wien in Gold ist am Donnerstag der Philosoph und Kommunikationswissenschafter Ernst von Glasersfeld (92) ausgezeichnet worden. "Für jemanden, der sein Leben lang versucht hat, sich selbst nicht ernst zu nehmen, ist eine solche Auszeichnung ein völlig erschütternder Schock", schmunzelte Ernst von Glasersfeld.

Diese Auszeichnung mache es ihm “möglich, mich hier für den Rest meines Lebens beheimatet zu fühlen. Das war vorher nie der Fall”, dankte der Mitbegründer der Denkschule des Radikalen Konstruktivismus für die “sehr schöne” Medaille. Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny (S) würdigte den Philosophen als “wahren Weltenbürger”.

“Für jemanden, der sein Leben lang versucht hat, sich selbst nicht ernst zu nehmen, ist eine solche Auszeichnung ein völlig erschütternder Schock”, schmunzelte Ernst von Glasersfeld. Dabei dürfte den am 8. März 1917 als Sohn eines k.k. Diplomaten und einer Skirennläuferin in München geborenen Philosophen, der ohne ein abgeschlossenes Studium zu einem der bedeutendsten Denker der Gegenwart wurde, wenig überraschen. Nicht nur hat er kürzlich in seiner Heimat in den USA den “Goldenen Spazierstock” als Auszeichnung überreicht bekommen, wie Laudator Josef Mitterer (Universität Klagenfurt) erzählte. Auch ein kurzer Abriss seines beruflichen Werdeganges weist viele Wendungen auf: “Zuerst Skifahren, dann sieben Jahre Landarbeit in Irland, 15 Jahre Journalismus in Italien” und dann eine akademische Karriere, die sich “eigenwillig durch alle Disziplinen durchgeschlängelt hat”, schilderte Glasersfeld. Rückblickend sei es für ihn eine “unwahrscheinliche Befriedigung”, dass “meine Ideen manchen Menschen geholfen haben”.

Glasersfeld hatte zunächst die Staatsbürgerschaft der österreichisch-ungarischen Monarchie und ist heute irisch-amerikanischer Staatsbürger. Der emeritierte Professor beschrieb einmal den Radikalen Konstruktivismus als “eine unkonventionelle Weise, die Probleme des Wissens und Erkennens zu betrachten”. Die Theorie beruhe auf der Annahme, dass alles Wissen, wie immer man es auch definieren möge, nur in den Köpfen von Menschen existiert und dass “das denkende Subjekt sein Wissen nur auf der Grundlage eigener Erfahrungen konstruieren kann”. Glasersfeld: “Was wir aus unserer Erfahrung machen, das allein bildet die Welt, in der wir bewusst leben.”

Mailath-Pokorny würdigte den Standpunkt, dass es “nicht die eine Wahrheit gibt”, als “zutiefst politische Aussage”, insbesondere “in einer Zeit, in der Fundamentalismen eine Renaissance erleben”. In einer Anspielung auf die derzeitige Hochschuldiskussion meinte der Kulturstadtrat, angesichts des Werdegangs des Philosophen sei ersichtlich, dass es “in der Wissenschaft nicht um formale Titel geht, sondern um die Leidenschaft, Neues zu entdecken.”

Ernst von Glasersfeld wuchs in Meran dreisprachig auf (Deutsch, Englisch, Italienisch) und lernte im Internat in der Schweiz Französisch als vierte Sprache. Seine akademische Laufbahn begann mit dem Studium der Mathematik an der ETH Zürich und setzte sich – aus Geldnot – an der Universität Wien fort. Doch nach kurzer Zeit wich Glasersfeld 1937 der antisemitischen Stimmung und der Präsenz der Nazis an der Hochschule und verließ Österreich.

Nach einem kurzen Aufenthalt in Australien als Skilehrer und kurzfristig in Paris emigrierte Glasersfeld nach Irland, lebte dort als Bauer und traf hier u.a. mit Erwin Schrödinger und James Joyce zusammen. Als Kulturjournalist kehrte er nach dem Krieg nach Südtirol zurück und bot erste konstruktivistische Reflexionen. Er arbeitete für den “Standpunkt” in Bozen und die “Weltwoche”. 1959 wurde er Mitarbeiter von Silvio Ceccato, Gründer des Zentrums für Kybernetik der Universität Mailand, und arbeitet zunächst in Italien und dann in den USA. Aus seinen Arbeiten zog Glasersfeld u.a. den Schluss, dass “jede Sprache eine andere begriffliche Welt bedeutet”.

Danach folgte der Wissenschafter einem Ruf als Professor für Kognitive Psychologie an die University Georgia in Athens. Seine Beiträge zur Primatenforschung machten ihn berühmt. Als Professor für Kognitive Psychologie entwickelte er mit Computerunterstützung “Yerkish”, eine erste Sprache für Kommunikationsversuche mit Schimpansen.

Glasersfeld beschäftigte sich mit dem Werk Jean Piagets und lieferte Beiträge im Bereich der Lerntheorie und der Unterrichtsdidaktik. Er gilt mit seinem Freund Heinz von Foerster als Mitbegründer des Radikalen Konstruktivismus. Die Arbeiten von Glasersfeld haben u.a. in den Kognitionswissenschaften, in der Managementlehre und Ökonomie, in den Literatur- und Medienwissenschaften, in der Mathematikdidaktik und in der Philosophie Spuren hinterlassen.

Seit seiner Emeritierung 1987 war Glasersfeld am Scientific Reasoning Research Institute der University of Massachusetts (USA) tätig. Neben Ehrendoktoraten der Universität Klagenfurt und der Universite Du Quebec in Montreal hat Glasersfeld Auszeichnungen von Universitäten und wissenschaftlichen Vereinigungen in den USA, Kanada, Belgien und Deutschland erhalten.

Jüngst veröffentlichte Glasersfeld sein Buch “Unverbindliche Erinnerungen: Skizzen aus einem fernen Leben” (Folio Verlag, Wien 2008). Eine Doppelbiografie von Glasersfeld und Foerster erschien 1999 unter dem Titel “Wie wir uns erfinden”. Weitere deutschsprachige Werke umfassen “Wissen, Sprache und Wirklichkeit” (1987), “Über Grenzen des Begreifens” (1996), “Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme” (1997) und “Radikaler Konstruktivismus – Versuch einer Wissenstheorie” (2005).

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