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Niederlande: Zerfall der Regierung

Die Niederlande stehen nach dem Zusammenbruch der Mitte-rechts-Regierung vor Neuwahlen im Herbst. Dabei ist Umfragen zufolge ein Linksruck wahrscheinlich.

Ministerpräsident Jan Peter Balkenende reichte am Freitag bei Königin Beatrix den Rücktritt seiner Regierung ein. Der Christdemokrat zog damit die Konsequenz aus dem Verlust des Koalitionspartners D66.

Hintergrund für den Ausstieg der linksliberalen Partei ist ein koalitionsinterner Streit über die Einwanderungspolitik. Dabei geht es insbesondere um die harte Haltung von Einwanderungsministerin Rita Verdonk im Fall der aus Somalia stammenden niederländischen Politikerin Ayaan Hirsi Ali von der rechtsliberalen VVD. Hirsi Ali wird vorgeworfen, bei ihrer Einreise in die Niederlande 1992 falsche Angaben gemacht zu haben.

Bis zu den vorgezogenen Wahlen dürften Balkenendes Christdemokraten und die VVD die Amtsgeschäfte mit Unterstützung rechtsgerichteter Parteien weiterführen. In den kommenden Tagen wird Königin Beatrix als Staatsoberhaupt Vertreter aller politischen Parteien zu Gesprächen bitten.

Dass Balkenende und die anderen Minister aber lediglich ihre Ämter zur Verfügung stellen, bedeutet, dass die Königin sie erneut mit den Regierungsgeschäften beauftragen könnte. Führende Politiker der beiden verbliebenen Koalitionspartner sprachen sich bereits für eine Minderheitsregierung aus. Sofern diese punktuell Rückhalt im Parlament bekäme, wäre sie handlungsfähiger als ein lediglich geschäftsführendes Kabinett. Die oppositionelle Arbeitspartei und die ebenfalls oppositionellen Grünen verlangen aber vorgezogene Wahlen. Planmäßig steht erst im nächsten Mai eine Parlamentswahl an.

Balkenende hatte den überraschenden Rücktritt am Vorabend im Fernsehen angekündigt. Die kleinste der Koalitionsparteien D66 habe ihre Unterstützung aufgekündigt und ihre zwei Minister hätten die Regierung verlassen. Die D66 hatte einen Misstrauensantrag gegen Verdonk eingereicht. Nach dessen Scheitern trat die Partei aus der Regierung aus. Ohne die D66 hat die Koalition im Parlament keine Mehrheit mehr.

Eskaliert war der Streit, als Verdonk ihrer Parteikollegin Hirsi Ali angedroht hatte, ihr wegen des Skandals die niederländische Staatsbürgerschaft zu entziehen. Hirsi Ali gab ihren Parlamentssitz auf und erklärte später, sie habe nicht absichtlich falsche Angaben gemacht. Zudem seien die Umstände ihrer Einreise bereits länger bekannt gewesen. Die Islam-Kritikerin hat angekündigt, in die USA auszuwandern, um dort für eine konservative Expertengruppe zu arbeiten. Verdonk ist seit längerem wegen ihrer harten Haltung bei Einwanderungsfragen umstritten. Die Niederlande hatten im März strenge Gesetze in diesem Bereich erlassen.

Umfragen zufolge müssen Balkenendes Christdemokraten bei der jetzt für September oder Oktober erwarteten Wahl ebenso wie die D66 mit deutlichen Verlusten rechnen. Der VVD werden dagegen Sitzgewinne prognostiziert. Die größte Oppositionspartei, die sozialdemokratische Arbeitspartei, dürfte stärkste Partei werden. Auch die Grünen und die Sozialisten können mit Zuwächsen rechnen. Dennoch dürfte es den Umfragen zufolge nicht für eine Parlamentsmehrheit dieser drei Oppositionsparteien reichen.

Bereits bei den Kommunalwahlen vor drei Monaten unterstützten die Wähler linksgerichtete Parteien, die sich gegen die Einwanderungsgesetze ausgesprochen hatten. Auch machten sie die regierenden Mitte-rechts-Parteien für den wirtschaftlichen Abschwung im Land verantwortlich.

Balkenende plädiert für Minderheitsregierung

Nach dem Verlust ihrer parlamentarischen Mehrheit wollen führende Politiker der niederländischen Mitte-Rechts-Koalition mit einer Minderheitsregierung weitermachen. Ministerpräsident Jan Peter Balkenende suchte am Freitagmorgen Königin Beatrix auf und bot ihr erwartungsgemäß den Rücktritt seines seit drei Jahren amtierenden Kabinetts an. Formal trat Balkenende noch nicht zurück, sondern stellte seinen Posten und die seiner Minister „zur Verfügung“.

Er bat aber um Entlassung der Regierungsmitglieder von D66, die am Vorabend ihre Ämter aufgegeben hatten. Balkenende und andere Politiker seiner noch regierenden CDA (Christdemokraten) und der VVD (rechtsliberal) machten sich dafür stark, ohne Neuwahlen trotz fehlender Mehrheit gemeinsam ein neues Kabinett zu bilden. Sie verfügen in dem 150 Abgeordnete umfassenden Parlament nur über 71 Stimmen. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass zumindest in einzelnen Punkten die kleinen christlichen Parteien oder die Populisten ihre Unterstützung anbieten würden.

Balkenende sprach etwa eine Stunde mit der Königin, die sich im Laufe des Tages auch noch mit anderen Politikern beraten wollte. Nachdem er und seine Minister ihre Posten zur Verfügung gestellt haben, sind sie nur noch geschäftsführend im Amt. Seitens der Koalitionsparteien wurde darauf hingewiesen, dass wichtige Aufgaben, wie etwa der niederländische Militäreinsatz in Afghanistan, eine voll handlungsfähige Regierung verlangten – und sei es eine Minderheitsregierung.

Nach Ansicht von Beobachtern steckt hinter diesen Argumenten aber auch der Versuch, möglichst lange im Amt zu bleiben. Planmäßig würde erst im Mai nächsten Jahres gewählt, und die regierenden Parteien erwarten angesichts guter Wirtschaftsentwicklung und einer sanierten Staatskasse wachsenden Zuspruch der Wähler. Die oppositionellen Sozialdemokraten und Grünen dagegen, mit denen die Königin ebenfalls noch sprechen wollte, treten für rasche Neuwahlen ein.

Üblicherweise setzt die Königin nach Konsultation der führenden Politiker einen so genannten Formateur ein, der die Chancen einer Regierungsbildung ausloten soll. Sollten sich Neuwahlen als einziger Weg aus der Krise herausstellen, so müssen diese nach frühestens 41 und höchsten 83 Tagen nach der Ausschreibung stattfinden. Wann die Entscheidung über das weitere Vorgehen fällt, war am Freitag noch nicht abzusehen.

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