Neutralität für viele Teil der österreichischen Identität
Der Politikwissenschafter Martin Senn erklärt die hohe Zustimmung zur Neutralität damit: "Sie ist ein wesentlicher Teil der Erzählung, was Österreich nach 1945 und 1955 ist, und wer wir sein wollen", wie Senn gegenüber der Parlamentskorrespondenz erklärte: "Und sie ist auch Teil der Erzählung, wer wir nicht sein wollen." An der Universität Innsbruck leitet Senn in Zusammenarbeit mit dem Außenministerium das "Austrian Foreign Policy Panel Project (AFP3)". Die Langzeitstudie untersucht seit 2023 die Meinung der Österreicher zur Außen- und Sicherheitspolitik, einschließlich der Neutralität.
Stabiles Bekenntnis zur Neutralität bei Jungen weniger stark
In den Daten falle aber auf, dass jüngere Befragte Neutralität und Identität weniger stark verknüpft sehen als ältere. Während 88 Prozent der Über-60-Jährigen der Neutralität als Identitätsmerkmal zustimmen, sind es bei den 18- bis 29-Jährigen nur noch 65 Prozent. Laut Senn hängt das damit zusammen, dass die Neutralität in den vergangenen 20 Jahren im öffentlichen Raum wenig präsent war. Jedoch habe sich dies seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Jahr 2022 wieder geändert. Vor der "Zeitenwende" sei Krieg in der öffentlichen Wahrnehmung ein Thema der Vergangenheit gewesen, erklärte Senn: "Wenn Krieg der Vergangenheit angehört, ist auch die Neutralität wenig relevant, weil sie immer im Bezug zu kriegerischen Auseinandersetzungen steht". Die junge Generation sei in den prägenden Jahren ihrer politischen Sozialisation dementsprechend wenig mit der Neutralität in Berührung gekommen.
Dennoch solide Mehrheit für Beibehaltung der Neutralität
Dennoch gebe es nach wie vor eine solide Mehrheit für die Beibehaltung der Neutralität in ihrer derzeitigen Form. 59 Prozent der Befragten sprechen sich dafür aus. 36 Prozent würden sich eine umfassendere Neutralität wünschen, 13 Prozent sind für einen NATO-Betritt und nur neun Prozent würden die Neutralität aufgeben wollen, ohne der NATO beizutreten. Insgesamt konnte das Forschungsteam bei den Fragen zur Neutralität eine Konstanz über die Jahre hinweg feststellen. "Das Bekenntnis zur Neutralität ist stabil", sagte Senn.
Neutralität als "politischer Mythos"
Die Ergebnisse seiner Forschung zeigen für Senn, wie wirkmächtig die Neutralität als "politischer Mythos" ist. Ein politischer Mythos ist ein Bezugspunkt für Gemeinschaften, eine Erzählung, die Halt gibt. Er bietet Orientierung und ist vor allem wichtig, wenn die Umgebung stark im Wandel ist. Er plädiert dafür, anzuerkennen, dass Neutralität als Erzählung ein wichtiger Ankerpunkt für die Gesellschaft ist. Davon ausgehend müsste man behutsam vorgehen und mit der Bevölkerung gemeinsam überlegen, ob und wie man die Neutralität fit für das 21. Jahrhundert machen kann. Man sollte nicht über "Neutralität - ja oder nein" oder "Neutral bleiben oder der NATO beitreten" diskutieren, so Senn. Das aktuelle Jubiläumsjahr biete dafür gute Anknüpfungspunkte.
Hälfte der Österreicher versteht Neutralität nicht nur militärisch
Was Österreichs Neutralität aus Sicht der Bevölkerung überhaupt bedeutet, hat unterdessen Meinungsforscher Peter Hajek in einer Umfrage für den Fernsehsender ATV und die Streamingplattform Joyn erhoben (rund 800 per Telefon und online befragte Wahlberechtigte, 20. bis 23. Oktober). Genau die Hälfte ist der Meinung, dass die Neutralität Österreich verpflichtet, sich politisch und militärisch aus Konflikten herauszuhalten. Für 46 Prozent bedeutet die Neutralität, dass Österreich militärisch neutral bleiben soll, aber politisch Stellung beziehen darf.
Je nach Parteipräferenz gibt es dabei allerdings deutliche Unterschiede: Unter den FPÖ-Wählerinnen und -Wählern verstehen 79 Prozent die Neutralität als Auftrag, sich aus Konflikten politisch und militärisch herauszuhalten. Für die Mehrheit der Wähler der anderen Parteien ist Österreich hingegen militärisch neutral, darf und soll politisch aber sehr wohl Stellung beziehen (NEOS: 79 Prozent, Grüne: 69, ÖVP: 63, SPÖ: 59). "Die Interpretation der österreichischen Neutralität spaltet die Bevölkerung - und die Trennlinie verläuft einmal mehr zwischen den FPÖ-Wählern und den Unterstützern anderer Parteien", kommentierte Hajek das Ergebnis in einer Aussendung.
(APA/Red)