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Gauck angelobt: Aufruf zur Verantwortung

Mit Nachdruck plädierte Gauck dafür, am "Ja zu Europa" festzuhalten.
Mit Nachdruck plädierte Gauck dafür, am "Ja zu Europa" festzuhalten. ©EPA
Der neue deutsche Bundespräsident Joachim Gauck hat die Deutschen zu mehr Verantwortung für das Gemeinwesen und zu neuem Selbstbewusstsein aufgerufen.

In seiner ersten Grundsatzrede betonte Gauck am Freitag zugleich, er wolle sich in seiner Amtszeit für eine offene Gesellschaft einsetzen und das Wirken seines Vorgängers Christian Wulff um eine bessere Integration fortsetzen. Das Staatsoberhaupt zeigte sich zudem überzeugt, dass sich die deutsche Staatsordnung als wehrhaft gegen Feinde der Demokratie erweisen werde. In der gemeinsamen Sitzung von Bundestag und Bundesrat war Gauck zuvor von Parlamentspräsident Norbert Lammert auf die Verfassung vereidigt worden.

“Land des Demokratiewunders”

In seiner 25-minütigen Grundsatzrede skizzierte der am Sonntag gewählte Gauck erste Leitlinien seiner Amtszeit. Dabei ging er auf zahlreiche Ängste der Menschen etwa vor der Globalisierung ein. Viele Menschen suchten nach Fluchtwegen, Freiheit sei für sie keine Verheißung. “Ängste vermindern unseren Mut wie unser Selbstvertrauen und manchmal so entscheidend, dass wir beides ganz und gar verlieren können.” Gauck betonte, er wolle diesen Ängsten keinen Vorschub leisten und stattdessen seine Erinnerung als Kraftquelle nutzen. So wünsche er sich eine lebendige Erinnerung an das, was in Deutschland nach all den Verbrechen der NS-Diktatur und den Gräueltaten des Krieges gelungen sei. Sein Land empfinde er vor allem als “Land des Demokratiewunders”.

Regierende und Bürger rief Gauck auf, sich mit der zunehmenden Distanz zwischen ihnen nicht abzufinden. Die politisch Handelnden müssten “offen und klar” reden, um verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. Für die Bürger wiederum gelte: “Seid nicht nur Konsumenten.” Wer ohne Not auf Teilhabe verzichte, vergebe “eine der schönsten und größten Möglichkeiten des menschlichen Daseins: Verantwortung zu leben.”

Gauck würdigt Arbeit seines Vorgängers Wulff

Zu einem Land, zu dem auch die Enkel noch Ja sagen können, gehört laut Gauck das Bekenntnis zu einer offenen Gesellschaft. “Wir leben inzwischen in einem Staat, in dem neben die ganz selbstverständliche deutschsprachige und christliche Tradition Religionen wie der Islam getreten sind, auch andere Sprachen, andere Traditionen und Kulturen.” In Deutschland sollten alle zu Hause sein können, die hier lebten. Ausdrücklich würdigte Gauck in diesem Zusammenhang die Arbeit seines Vorgängers Wulff, der bei Migrantenverbänden hohes Ansehen genoss. “Dieses Ihr Anliegen wird auch mir beständig am Herzen liegen”, versicherte das neue Staatsoberhaupt. Wulff hatte insbesondere mit dem Satz für Aufmerksamkeit gesorgt, dass neben Christentum und Judentum auch der Islam inzwischen zu Deutschland gehöre.

Gauck warnte davor, sich in Fragen des Zusammenlebens von Ängsten, Ressentiments und negativen Projektionen leiten zu lassen. “Unsere Verfassung wie unser Menschsein tragen uns auf, im anderen geschwisterlich uns selbst zu sehen – begabt und berechtigt zur Teilhabe wie wir”, sagte der ehemalige Rostocker Pfarrer. Nicht mehr die Schicksalsgemeinschaft bestimme das Gemeinwesen, sondern “das Streben der Unterschiedlichen nach dem Gemeinsamen”. Die “repräsentative Demokratie” bezeichnete der Präsident als das einzig geeignete System, um Gruppen- und Gemeinwohlinteressen auszugleichen. Dabei handle es sich um ein lernendes System. “Wir stehen zu diesem Land nicht, weil es so vollkommen ist, sondern, weil wir nie zuvor ein besseres gesehen haben.”

Gauck: “Hass von Verächtern der Demokratie ist unser Ansporn”

Gauck zeigte sich überzeugt, dass das Land über genügend Demokraten verfügt, um “dem Ungeist von Fanatikern und Terroristen und Mordgesellen” zu wehren. Allen “Verächtern der Demokratie” gelte: “Euer Hass ist unser Ansporn. Wir lassen unser Land nicht im Stich. Wir schenken Euch auch nicht unsere Angst. Ihr werdet Vergangenheit sein und unsere Demokratie wird leben.”

Mit Nachdruck plädierte Gauck dafür, am “Ja zu Europa” festzuhalten. Gerade in Krisenzeiten sei “die Neigung, sich auf die Ebene des Nationalstaats zu flüchten, besonders ausgeprägt”. Das europäische Miteinander sei aber “ohne den Lebensatem der Solidarität nicht gestaltbar”. “Gerade in der Krise heißt es deshalb: Wir wollen mehr Europa wagen.”

Der frühere DDR-Bürgerrechtler hatte zuvor seinen Amtseid als elfter Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland abgelegt. Der parteilose Theologe war am vergangenen Sonntag als gemeinsamer Kandidat von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen mit großer Mehrheit gewählt worden.

Positives Echo auf Gaucks Antrittsrede

Die Antrittsrede des neuen deutschen Bundespräsidenten fand bei Politikern ein positives Echo. Der Parlamentsgeschäftsführer der Unionsfraktion, Peter Altmaier, sagte im TV-Sender Phoenix, es habe Wulff “sicherlich gut getan, dass seine Arbeit in der Sache unabhängig von allen anderen Diskussionen anerkannt und gewürdigt wird”. SPD-Parlamentsgeschäftsführer Thomas Oppermann sagte dem Sender, mit der Wahl von Gauck könne “die Politik mit Fug und Recht behaupten, diesmal haben wir alles richtig gemacht”.

Die Grünen-Fraktionschefin Renate Künast nannte es im TV-Sender N24 “faszinierend”, wie Gauck in seiner Rede “Deutschland mitten in Europa reingesetzt hat”. FDP-Chef Philipp Rösler vertrat in dem Sender die Auffassung, Gaucks Antrittsrede sei “genau das” gewesen, “was wir uns von einem Bundespräsidenten erwünscht haben”. Auch der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, sprach in der Tageszeitung “Die Welt” (Samstag-Ausgabe) von einer “sehr guten Rede”.

Ein Präsident als Mutmacher: Kernaussagen in Joachim Gaucks Rede

Nach seiner Vereidigung vor Bundestag und Bundesrat hat der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck am Freitag erstmals zu den Schwerpunkten seiner Amtszeit Stellung genommen. Kernthema war die Frage: “Wie soll es nun aussehen, dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel ‘Unser Land’ sagen sollen?”

JA ZUR FREIHEIT, NEIN ZUR ANGST

Gauck diagnostizierte eine tiefe Verunsicherung in Deutschland: “Jeder Tag bringt neue Ängste hervor.” Soziale Ungerechtigkeit, Vereinsamung, Fanatismus und Kriegsfurcht verängstigten viele Menschen. Im Hinblick auf sie räumte Gauck ein: “Mein Lebensthema Freiheit ist für sie keine Verheißung, kein Versprechen, sondern Verunsicherung.” Dagegen wolle er ankämpfen: “Ängste vermindern unseren Mut wie unser Selbstvertrauen.” Berufen will sich Gauck dabei auf seine eigene Erfahrung mit einem Leben in Unfreiheit: “Ich will meine Erinnerung als Kraft nutzen, mich und uns zu lehren und zu motivieren.”

BEKENNTNIS ZU GERECHTIGKEIT

Gauck trat Kritikern entgegen, die ihm ein mangelndes Verständnis für soziale Gerechtigkeit attestieren. Er bekannte sich zum Sozialstaat, der “soziale Gerechtigkeit, Teilhabe und Aufstiegschancen verbindet”. Dabei sei aber auch das Engagement des Einzelnen gefragt: “Der Weg dahin ist nicht eine paternalistische Fürsorgepolitik.” Der Sozialstaat müsse die Menschen dazu ermächtigen, “Freiheit und Selbstverwirklichung erlebbar zu machen”.

EINTRETEN GEGEN RECHTSEXTREMISMUS

Gauck formulierte einen leidenschaftlichen Appell gegen rechte Extremisten. An die “rechtsextremen Verächter unserer Demokratie” gerichtet sagte er: “Euer Hass ist unser Ansporn, wir lassen unser Land nicht im Stich.” Deutschland werde sich nicht von den Extremisten einschüchtern lassen: “Wir schenken Euch auch nicht unsere Angst. Ihr werdet Vergangenheit sein und unsere Demokratie wird leben.”

OFFENHEIT FÜR MIGRANTEN

“In unserem Land sollen alle zu Hause sein können, die hier leben”, sagte Gauck. Die Verfassung spreche “allen Menschen dieselbe Würde” zu. “Sie tut dies nicht als Belohnung für gelungene Integration. Sie versagt dies aber auch nicht als Sanktion für verweigerte Integration.” Gauck bezeichnete Deutschland als Staat, “der sich immer weniger durch die Nationalkultur seiner Bürger definieren” lasse, sondern durch das “Streben der Unterschiedlichen nach dem Gemeinsamen”.

ENGAGEMENT FÜR DIE GEMEINSCHAFT

Angst bereitet Gauck nach eigenem Bekunden die “Distanz vieler Bürger zu den demokratischen Institutionen”. Er kritisierte das geringe Ansehen von Mitarbeit in Parteien oder Gewerkschaften: “Manche finden das uncool.” Wer als Bürger die Chance auf Engagement hat “und ohne Not auf sie verzichtet, der vergibt eine der großen Chancen: Verantwortung zu übernehmen”. Gauck würdigte ausdrücklich das Engagement von Bürgerbewegungen: “Sie ergänzen die parlamentarische Demokratie und gleichen Mängel aus.”

UMGANG MIT DER GESCHICHTE

Gauck rief dazu auf, die Nachkriegszeit als “große Ermutigung” für die Zukunft zu nehmen. Er halte Deutschland “vor allem für ein Land des Demokratiewunders”. Gauck würdigte die 68er Bewegung dafür, dass sie trotz mancher “Irrwege” die Nazi-Verbrechen ins Bewusstsein gerückt habe. Ein weiterer “Schatz in unserem Erinnerungsgut” sei die friedliche Revolution in der DDR 1989. Gauck kündigte an, er wolle “nicht nur über Schattenseiten, über Schuld und Versagen” in der deutschen Geschichte sprechen.

TREUE ZU EUROPA

Gauck legte ein klares Bekenntnis zur europäischen Integration ab. “Gerade in der Krise heißt es deshalb: Wir wollen mehr Europa wagen.” Er warnte vor der “Neigung, sich auf die Ebene des Nationalstaats zu flüchten”.

… UND ZUM SCHLUSS EINE BITTE

Gauck beendete seine Rede mit einer Bitte. “Zum Schluss erlaube ich mir, Sie um ein Geschenk zu bitten: um Vertrauen.” Dieses Vertrauen solle nicht nur ihm selbst gelten, sondern “all denen, die in unserem Land Verantwortung tragen” – und die Bürger forderte er auf, “Vertrauen in sich selbst zu setzen”.(APA)

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