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Neuausgabe von Anne Franks Tagebuch

„Ich bezweifle manchmal ernsthaft, ob sich später mal jemand für mein Geschwätz interessieren wird“, schrieb ein junges Mädchen im April 1944 in sein Tagebuch.

Das Mädchen irrte, denn seine Aufzeichnungen erreichten allein in Deutschland eine Auflage von mindestens zwei Millionen Exemplaren. Sie sind und waren Stoff im Unterricht, und sie gelten nach wie vor als eines der bewegendsten Dokumente der Judenverfolgung in Nazi-Deutschland. Der Verlag S. Fischer hat nun eine aufwändige Neuausgabe von Anne Franks „Tagebuch“ herausgebracht, das um einige bisher unveröffentlichte Seiten ergänzt wurde.

Wenig mehr als zwei Jahre schrieb Anne das auf, was sie bewegte, ärgerte, freute und ängstigte. Der erste Eintrag stammt vom 12. Juni 1942 – ihrem 13. Geburtstag, zu dem sie das Tagebuch geschenkt bekommen hatte. Damals lebte Anne mit ihren Eltern und der Schwester noch relativ sorglos, doch nicht einmal einen Monat später war „so viel geschehen, als hätte sich plötzlich die Welt umgedreht“. Die Familie hatte in einem Hinterhaus in der Amsterdamer Prinsengracht untertauchen müssen. „Wie ein Singvogel, dem die Flügel mit harter Hand ausgerissen worden sind“, kam sich Anne in diesem Versteck vor, das sich die Franks mit einer weiteren Familie und einem Mann teilen mussten.

Das junge Mädchen protokollierte alles, was es mit den wachen Augen einer Heranwachsenden beobachtete. Anne erlebte die Gereiztheit der auf engem Raum zusammengepferchten Menschen ebenso wie ihre eigene Angst, Einsamkeit und Verzweiflung, die sie immer wieder tapfer zu bekämpfen suchte. Es gab auch harmonische Augenblicke für die Versteckten und für Anne, die sich im Laufe der Zeit immer mehr von ihren Eltern löste und Peter, dem zwei Jahre älteren Leidensgenossen, näherte.

Die Hoffnung der Eingeschlossenen wuchs mit der Invasion der Alliierten von Tag zu Tag. „Vielleicht“, schrieb Anne am 6. Juni 1944 in ihr Tagebuch, „kann ich im September oder Oktober doch wieder zur Schule gehen.“ Doch die Hoffnung trog. Das Versteck wurde verraten, und am 4. August wurden die acht Untergetauchten von der SS und holländischen „Helfern“ abgeführt. Nur Vater Otto Frank überlebte von ihnen die Konzentrationslager. Anne starb im Februar oder März 1945 – ebenso wie ihre Schwester Margot – auf dem Transport nach Bergen-Belsen an Typhus.

Nach der Verhaftung wurde Annes Tagebuch gerettet und erschien 1950 erstmals in Deutschland. Erst 1998 tauchten in Amsterdam fünf bisher unbekannte Seiten aus dem Diarium auf. Man geht davon aus, dass Annes Vater diese Passagen wegen ihrer kritischen Formulierungen über die Eltern nicht zur Veröffentlichung hatte freigeben wollen. Otto Frank starb 1980 in der Schweiz. Seither verfügt der Anne-Frank-Fonds in Basel über die Autorenrechte.

Das Tagebuch der Anne Frank ist nicht nur als historisches Dokument eines schweren Leidensweges von Bedeutung, sondern auch als Protokoll des Eingeschlossenseins. Das Mädchen verstand es, das zu festzuhalten, was aus Menschen wird, die zum Zusammenleben auf engstem Raum gezwungen und erfüllt sind von Angst um ihr Leben. Darüber hinaus gewährt Anne mit ihren Einträgen tiefe Einblicke in das Seelenleben einer Pubertierenden – erfüllt von Abneigung gegen die Mutter und besessen von dem Gedanken, nicht verstanden zu werden. Wohl selten ist dieser Zustand zwischen Kindheit und Erwachsensein so treffend in Worte gefasst worden: „Ich habe meine eigenen Ideale, Vorstellungen und Pläne, aber ich kann sie noch nicht in Worte fassen.“

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