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"Narben werden immer bleiben"

Der Vorarlberger Kriminalpsychologe Reinhard Haller im großen "VN"-Interview zum unglaublichen Fall von Natascha Kampusch. Stockholm-Syndrom [.pdf - 82KB]

VN: Ganz Österreich fragt sich: Was ist das für ein Mann, der ein Mädchen acht Jahre in ein Verlies sperrt?

Haller: Ich muss vorausschicken, dass die Beurteilung äußerst schwierig ist. Es handelt sich um einen absolut einmaligen Fall in Österreich. Man muss mutmaßen, er selbst kann ja nicht mehr befragt werden. Der Mann muss jedenfalls kontaktgestört sein, zwischenmenschliche Ängste haben. Da ihm auf normalem Weg keine Beziehung möglich war, hat er sich ein wehrloses Mädchen zugelegt. Meine erste Reaktion jedenfalls war: Aha, er ist ein Techniker. Aha, er ist sehr penibel, sehr ordentlich. Dieses pedantische Verhalten haben auch andere große Verbrecher an den Tag gelegt. Das deutet darauf hin, dass das Verbrechen sehr genau geplant und durchgeführt wurde. Es ist dem Technikerberuf eigen, dass Dinge mit mathematischer Genauigkeit erledigt werden. Deshalb hat man acht Jahre nichts gemerkt. Der Mann hat nur wenige Fehler gemacht.

VN: Welche Befriedigung zog er daraus Natascha einzusperren?

Haller: Psychologisch gesehen geht es dabei um Macht. Er wollte Natascha völlig beherrschen, einen Menschen nach seinen Vorstellungen gestalten. Er hat das Mädchen in jener Zeit gefangen gehalten, als es vom Kind zur Frau geworden ist. Das gab ihm ein unglaubliches Hochgefühl – bis zu Allmachtsphantasien. Er muss sich als gottähnlich betrachtet haben. Sie war ihm völlig hilflos ausgeliefert, das genießen solche Täter ungemein. Zudem muss der Mann eine erhebliche Gemütsstörung aufweisen, sonst kann man nicht einem Menschen seine Kindheit entreißen und jahrelang im Verlies einsperren.

VN: Wäre es untypisch, hätte er sich nicht an Natascha vergriffen?

Haller: Es würde mich wundern, wenn das nicht in welcher Form auch immer passiert wäre.

VN: Die heute 18-jährige Frau leidet am Stockholm-Syndrom. Heißt das, dass sie sich zum Täter hingezogen fühlt?

Haller: Das Opfer beginnt sich mit der Zeit zu fragen, warum der Täter das macht. Es beginnt, sich in den Peiniger einzufühlen. Weil das Opfer in Todesangst lebt, will es den Peininger verstehen. Auf der einen Seite wollte Natascha entkommen und flüchten, auf der anderen Seite war sie den psychologischen Mechanismen unterworfen. Sie war ja offenbar für jede Gewährung von Freiheit sehr dankbar. Das war ein Spiel zwischen den beiden.

VN: Was bedeutet das für einen Menschen, wenn ihm die ganze Jugend fehlt?

Haller: Das ist eine Katastrophe und ein schweres Trauma. Es wird sehr viel Geschick und Zuwendung der Eltern – aber auch professioneller Seite benötigen. Für die ganze Famlie ist das eine wahnsinnige Situation, wenn ein Kind mit zehn Jahren aus dem Haus hinausgeht und nach acht Jahren als traumatisierte Frau zurückkehrt.

VN: Wie kann der Weg zurück in die Realität beschritten werden?

Haller: Sehr behutsam. Sie muss psychisch lädiert sein, wird unter Nachhall-Erinnerungen leiden. Auch Depressionen und Verzweiflungszustände kommen da hoch. Das bedarf einer langfristigen Begleitung. Narben werden immer bleiben, es ist unmöglich, das Erlebte völlig auszuheilen.

VN: In Deutschland wurden vermisste Kinder tot gefunden. Wieso lebt Natascha?

Haller: Bei vielen deutschen Fällen ging es nur um den sexuellen Missbrauch. Wenn Entführungsopfer die ersten 24 Stunden überleben, sind die Chancen generell groß. 95 Prozent der Opfer sterben nämlich in den ersten 24 Stunden. Im Fall Kampusch ging es dem Täter darum, eine Gemeinschaft haben zu wollen, einen Menschen zu beherrschen – es gab keine Tötungsabsicht.

VN: Getötet hat der Mann sich schließlich selbst.

Haller: Es klingt vermessen, aber nach Bekanntwerden der Vorwürfe war sofort klar, dass sich der Mann umbringen wird. Er hat genügend Verstand, um ein Unrechtsbewusstsein zu entwickeln und wollte nicht mehr ohne sein Opfer weiterleben – wir sprechen von einem existenziellen Verlusterlebnis. Und somit hat er am Mittwochabend dann Bilanzsuizid vollzogen.

VN: Wird Natascha je ein normales Leben führen können?

Haller: Das bleibt zu hoffen. Es kommt darauf an, wie stark sie mit Tod bedroht war, ob sie hin und wieder in Freiheit war. Ich hoffe, dass das gelingt. Das kann gelingen.

Stockholm-Syndrom

  • Für Außenstehende unverständlich entwickeln die Opfer in lebensbedrohlichen Situationen Sympathie für die Täter.
  • Das Phänomen ging 1973 nach einem Banküberfall in der schwedischen Hauptstadt in die wissenschaftliche Literatur ein, als sich dort ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Geiselnehmern und Opfern entwickelt hatte.
  • Es handelt sich um einen unterbewussten psychologischen Schutzmechanismus. Vor dem Gefühl ausgeliefert zu sein, schützen sich die Betroffenen seelisch dadurch, dass sie sich mit ihren Peinigern identifizieren.
  • Diese Bindung kann auch nach dem Ende der Gefahr weiterbestehen.
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