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Nach Kür Gaucks unterschiedliche Interpretationen in Deutschland

Die Kür Gaucks wird von den politischen Gegnern als schwere Schlappe Merkels gewertet.
Die Kür Gaucks wird von den politischen Gegnern als schwere Schlappe Merkels gewertet. ©AP
Nach der parteiübergreifenden Kür von Joachim Gauck zum Bundespräsidenten-Kandidaten in Deutschland hat das Ringen um die Interpretationshoheit begonnen.
Deutsche Pressestimmen zur Konsenskandidatur Gaucks
Gauck wird Deutschlands Präsident

SPD und Linke weisen darauf hin, dass Kanzlerin Angela Merkel (CDU) erst nach langem Ringen dem überraschenden Votum ihres Koalitionspartners FDP nachgegeben hatte, um einen Koalitionsbruch abzuwenden. Die CDU argumentiert zwar, dass ihre Vorsitzende Merkel mit der Initiative für eine parteiübergreifende Suche den Weg für Gauck überhaupt erst geebnet habe. Der Unionsfraktionsvize Michael Kretschmer sprach aber auch von einem “gewaltigen Vertrauensbruch” der FDP. Der “Leipziger Volkszeitung” (Montag-Ausgabe) sagte er: “Das Verhalten ist symptomatisch für den Zustand der FDP.”

“Überhaupt nicht friedlich”

SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles sagte mit Blick auf die Konsensfindung: “Das war überhaupt nicht friedlich. Die FDP ist erstaunlicherweise nicht umgefallen – dafür aber die Kanzlerin.” Sie wies in der ARD-Sendung “Günther Jauch” darauf hin, dass sich Merkel zuvor erst nach langem Ringen für den ehemaligen Bürgerrechtler Gauck als Nachfolger des rund um Korruptionsvorwürfen zurückgetretenen Christian Wulff entschieden hatte. “Das hatte einen einzigen Grund: Frau Merkel hätte eingestehen müssen, dass sie (bei der Präsidentenwahl) vor zwei Jahren einen Fehler gemacht hat. Am Ende musste sie eingestehen.”

Linken-Chef Klaus Ernst analysierte, die Kanzlerin habe sich von der FDP vorführen lassen. “Merkel hat dem Erpressungsmanöver nachgegeben, aber die Vertrauensbasis dieser Koalition ist erledigt”, sagte er der “Passauer Neuen Presse” (Montag).

Unions-Fraktionsgeschäftsführer Peter Altmaier erklärte dagegen, Merkel habe mit ihrer Initiative für einen parteiübergreifenden Konsens dem Land “eine Zerreißprobe erspart mit wochenlangen Diskussionen”. Er sei “überzeugt, dass es in den Gremien der CDU eine breite Unterstützung für den Kurs von Angela Merkel geben wird”, fügte Altmaier in der ARD hinzu. Die Entscheidung für den ursprünglich von SPD und Grünen favorisierten Kandidaten Gauck stehe in keinem Zusammenhang mit Koalitionsdebatten. “Dies ist kein Koalitionssignal”, erklärte Altmaier.

Koalition vor ernster Bewährungsprobe

Die Koalitionsparteien CDU, CSU und FDP hatten sich am Sonntagabend in einem stundenlangen Ringen auf den 72-jährigen Gauck geeinigt, der Favorit von SPD und Grünen war. Zuvor hatte sich die FDP überraschend auf die Seite der Oppositionsparteien geschlagen und den Gründungschef der Stasiunterlagen-Behörde als Nachfolger von Christian Wulff (CDU) unterstützt. Die Liberalen – schwer angeschlagen und vor den anstehenden Landtagswahlen um Profil ringend – führten das schwarz-gelbe Bündnis damit bis an den Rand des Bruchs. Mit ihrem Nachgeben wendete Merkel das vorzeitige Aus des Bündnisses ab.

Gauck, der in einem ersten Anlauf aufs Schloss Bellevue 2010 dem schwarz-gelben Kandidaten Wulff unterlegen war, kann sich nun auf eine breite Unterstützung in der Bundesversammlung stützen. Der Präsident muss spätestens am 18. März gewählt werden, ein Termin steht aber noch nicht fest.

Merkel bezeichnete bei einem gemeinsamen Auftritt der Parteichefs den früheren DDR-Bürgerrechtler und Theologen Gauck als “wahren Demokratielehrer”, der wichtige Impulse für Globalisierung, die Lösung der Schuldenkrise und mehr Demokratie geben könne. Der sichtlich bewegte Gauck kündigte an, er wolle den Deutschen vermitteln, dass sie “in einem guten Land leben, das sie lieben können”. Gauck war in Umfragen klarer Favorit der Bürger. Rund jeder Zweite hält ihn für geeignet.

Bittere Schlappe für Merkel

Doch fernab aller Bezeugungen hat Merkel in Wirklichkeit gerade eine ihrer bittersten politischen Niederlagen der letzten Jahren erlitten. Das ließ sich schon an den strahlenden Gesichtern von SPD-Chef Sigmar Gabriel sowie der Grünen-Parteivorsitzenden Claudia Roth und Cem Özdemir in der gemeinsamen Pressekonferenz ablesen. “Die Überschrift könnte lauten: Ende gut, alles gut”, stichelte Gabriel zufrieden und erinnert wie Roth daran, dass nun endlich der “Fehler” der Kanzlerin korrigiert werde, die bei der letzten Wahl eines Bundespräsidenten 2010 noch den niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff gegen Gauck durchgesetzt hatte.

Am Sonntag wurde klar, wie begrenzt der Spielraum der “mächtigsten Frau der Welt” bei der Präsidentensuche in Wahrheit war. Denn obwohl die Union lieber den früheren Umweltminister Klaus Töpfer oder den früheren Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Wolfgang Huber, nominiert hätte, setzte die FDP ihre Präferenz durch. In einer Schaltkonferenz legte sich die liberale Führungsspitze ganz auf Gauck fest – wohl wissend, dass dies für den Koalitionspartner eine Zumutung sein würde. “Aber die FDP wollte auch einmal zu den Gewinnern gehören”, spottete man in der Opposition umgehend.

Genüsslich wird bei SPD und Grünen darauf verwiesen, dass sich die Union trotz ihrer derzeitigen Umfragestärke nicht einmal “gegen eine Drei-Prozent-Partei” habe durchsetzen können. Tatsächlich hatte die Kanzlerin angesichts der harten Haltung der FDP plötzlich nur noch eine Wahl: Entweder sie gibt nach und erleidet mit der gemeinsamen Nominierung des 2010 noch abgelehnten Gaucks selbst einen Gesichtsverlust. Oder aber sie einigt sich mit der Opposition auf einen Kandidaten wie Töpfer – um den Preis, dass die schwarz-gelbe Koalition auf Bundesebene platzen und ihre Kanzlerschaft gefährdet ist.

Wie geht es in Deutschland jetzt weiter?

So positiv sich Merkel am Sonntagabend öffentlich auch zu Gauck äußerte: Die Nominierung trifft die zuletzt so übermächtige wirkende Kanzlerin an zwei sehr empfindlichen Stellen. Zum einen galt gerade die verschwiegene Personalpolitik lange als Ausdruck ihrer politischen Macht und Expertise – spätestens seit sie noch als Oppositionsführerin gegen den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder und Frankreichs Präsidenten Jacques Chirac den Portugiesen Jose Manuel Barroso als neuen EU-Kommissionspräsidenten durchsetzte. Jetzt aber offenbarte die angeschlagene FDP, dass Merkel das Heft des Handelns nicht in der Hand hatte.

Zudem schmälert die Wahl des populären ostdeutschen Protestanten Gauck ein wenig den Glanz ihrer eigenen Vita und ihr politisches Alleinstellungsmerkmal. Denn der künftige höchste Mann im deutschen Staat wuchs wie Merkel nicht nur im Kommunismus auf, sondern war anders als sie damals sogar aktiv im Bürgerwiderstand gewesen.

“Es passt schon”, wiegelte CSU-Chef Horst Seehofer zwar nach der gemeinsamen Pressekonferenz ab. Viel wichtiger als solche Überlegungen sei doch, dass mit der parteiübergreifenden Nominierung ein Signal an die Bürger und das Ausland gesendet habe.

Aber die politische Debatte dürfte dennoch nicht beendet sein. Denn nach einer Entscheidung ist in der Politik immer vor der nächsten. Und bei denen könnte die FDP in der schwarz-gelben Koalition auf einen ruppigen Ton treffen. Ein CDU-Politiker, der angesichts der durchaus aufgeheizten Stimmung in der Union anonym bleiben wollte, vermutet sogar eine möglicherweise paradoxe Wirkung der Nominierung Gaucks: So hat die angeschlagene FDP zwar erfolgreich alle Kandidaten abgeschossen, die den Anschein künftiger schwarz-grüner oder schwarz-roter Koalitionen hätten erwecken können. Doch die de-facto-Hilfestellung für die Opposition könnte dazu führen, dass die Liberalen am Sonntag eine der letzten vehementen Verfechterinnen des schwarz-gelben Bündnisses emotional verloren haben – die Kanzlerin und CDU-Chefin. Am Ende der Pressekonferenz jedenfalls kümmerte sich Merkel intensiv um Gauck und SPD-Chef Gabriel. FDP-Chef Philipp Rösler würdigte sie dagegen mit keinem Blick.

Koalition um Entspannung bemüht

Am heutigen Montag jedenfalls waren beide Seiten um Entspannung bemüht. Die Gespräche mit der FDP über die Aufstellung von Joachim Gauck seien “mitunter nicht leicht verlaufen”, sagte CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe im ZDF-“Morgenmagazin”. Er rate nun dazu, “nicht öffentlich nachzukarten”. Dies verbiete allein schon die Würde des höchsten Staatsamts. CDU-Chefin und Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte sich am Sonntagabend erst unter massivem Druck des Koalitionspartners zu einer Unterstützung von Gaucks Kandidatur gemeinsam mit der Opposition bewegen lassen.

Die schwarz-gelbe Koalition müsse sich nun um drängende Themen wie die Energiewende und die Euro-Krise kümmern, sagte Gröhe. Dabei werde die Union ein “verlässlicher Koalitionspartner” sein. Der Generalsekretär sah die Bundeskanzlerin durch die Kontroverse nicht geschwächt. “Ich sehe, dass wir eine Kanzlerin haben, die sehr hohe Zustimmung in der Bevölkerung genießt.” Das Gleiche gelte für Gauck. Unions-Fraktionsvize Michael Kretschmer (CDU) hatte zuvor noch von einem “gewaltigen Vertrauensbruch” seitens der FDP gesprochen, der schwere Folgen für die weitere Zusammenarbeit in der Koalition haben werde. “Das Verhalten ist symptomatisch für den Zustand der FDP”, sagte er.

Der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki sprach sich am Montag für ein Ende des Streits in der Koalition aus. “Wir sollten jetzt nicht zurückblicken im Zorn”, sagte er ebenfalls im ZDF-“Morgenmagazin”. Die Politik habe mit Gaucks Nominierung gezeigt, “dass wir handlungsfähig sind”.

(APA)

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